Ökumenisches Heiligenlexikon

Gallus und Bregenz


Kolumbans Missionstätigkeit im Bodenseegebiet wäre ohne größeren Erfolg geblieben, wäre nicht Gallus gewesen, doch auch ihn hielt es nach seiner Genesung nicht mehr lange in der Bregenzer Gegend. Er packte Fischernetze und Fischergarn in ein Boot und ruderte über den See nach Arbon. Dort teilte er dem Diakon Hiltibold, einem ortskundigen Alamannen, seine Absicht mit, sich in die Einsamkeit zurückzuziehen. Dieser erklärte sich bereit, ihm einen günstigen Platz zu zeigen, warnte ihn aber auch gleichzeitig vor der Einsamkeit und Rauheit der Gegend, und vor allem vor gefährlichen Tieren. Auf ihrer Suche nach einem geeigneten Platz für eine Zelle verfing sich Gallus prompt in einem Dornengestrüpp. Ein anderer hätte nun vielleicht geschimpft und sich geärgert; für ihn aber war es ganz offensichtlich ein Zeichen des Himmels, die neue Unterkunft an dieser Stelle zu errichten. Als gleich darauf auch noch ein Bär auftauchte, beauftragte ihn der unerschrockene Ire, ohne zu zögern, Holz fürs Feuer herbeizuschaffen. Das Tier gehorchte und bekam dafür ein ganzes Brot. Anschließend durfte es sich wieder empfehlen.

Eines Morgens hatte er seinen Gefährten Hiltibold wie wahrscheinlich schon öfters zu einem nahen Wasserfall zum Fischen geschickt. Da kam dieser plötzlich atemlos angerannt und berichtete ihm von zwei Dämonen in der Gestalt von Weibern: Nackt seien sie am Ufer gestanden, als wollten sie gerade ins Bad steigen; schamlos hätten sie sich zur Schau gestellt, gleich darauf Steine gegen ihn geworfen und gesagt: Du hast jenen Mann hierher in diese Einöde geführt, jenen üblen und missgünstigen Mann … Natürlich begleitete Gallus den aufgeregten Gefährten zum Wasserfall, und dort befahl er den zwei Weibern energisch, diesen Ort sofort zu verlassen. Es dauerte dann auch nur kurze Zeit, da hörten sie vom Gipfel des Berges herab zwei jammernde Frauenstimmen: Was sollen wir tun und wohin sollen wir uns wenden? Wegen jenes Fremdlings dürfen wir nicht mehr hier wohnen, weder bei den Menschen noch auch nur in den Einöden.

Wer waren die beiden Frauen am Wasser? Stehen sie etwa für eine nichtchristliche Bevölkerungsgruppe, die hier in ihrer eigenen Spiritualität zurückgezogen lebte?

Kann die Schilderung, wonach sie nackt am Ufer standen, als wollten sie ins Bad steigen, etwa so gedeutet werden, dass es sich bei ihnen um Priesterinnen oder Druidinnen gehandelt hat? So glauben jedenfalls moderne Mythenforscher die geschilderte Szene auch ganz gut erklären zu können. In den Legenden mit der üblichen Verherrlichung eines Heiligen kann man Derartiges natürlich nicht lesen; fast mag man es erwarten, dass hier gleich von Dämonen gesprochen bzw. geschrieben worden ist. Der Illustrator des beschriebenen Geschehens hat zwar zwei durchaus verlockende weibliche Wesen dargestellt, doch betrachtet man deren Füße, so erkennt man gut, was er von ihnen gehalten hat.

Die Vielfalt dessen, was sich hier als Erklärung anbieten könnte, ist nichts Ungewöhnliches. Wer sich ein wenig eingehender mit derartigen Legenden beschäftigt, wird immer wieder auf Ereignisse stoßen, die sich auf mancherlei Arten deuten lassen. Auch hinter den bereits erwähnten drei Bildnissen von Gottheiten, die Gallus erfolgreich zertrümmert und anschließend in den Bodensee geworfen haben soll, ist im Lauf der Zeit ganz Verschiedenes gesehen worden. Meistens ist zwar von drei ehernen Figuren heidnischer Götter die Rede, die beim nächsten Biografen prompt die Namen der germanischen Gottheiten Wotan, Thor und Freya bekommen. Doch es gibt auch durchaus die Meinung, die erwähnte Dreiheit sei noch eine dunkle Erinnerung an eine frühere Christianisierung in dieser Gegend und deute auf die Dreifaltigkeit Gottes hin. Gar nicht zu reden vom Erklärungsversuch, der hinter den drei Bildnissen den heiligen Ort eines einstigen Dreifrauenkults sehen möchte, der dann mit der Verehrung der hl. Aurelia überdeckt worden ist.

Natürlich blieb Gallus dann nicht ständig in dieser Wildnis, schließlich war er doch als Missionar gekommen, und so verließ er von Zeit zu Zeit seine Unterkunft an der Steinach und begab sich hinunter an den See, um dort dem Volk zu predigen.

In Arbon steht neben der neuen Kirche noch die alte kleine. Neben dem Portal ist in der Mauer eine Nische zu sehen und darin ein Stein, der eine große, länglichrunde Vertiefung aufweist. Auf dem Stein soll Gallus gestanden sein, und im Eifer seiner Rede habe er mit dem Fuß den Stein in dieser Weise gezeichnet.

Eine andere Version der Legende will auch hier den Bären unterbringen, diesmal allerdings nicht als hilfsbereiten Meister Petz, sondern als Verkörperung des Satans. Mit dem habe Gallus nämlich an dieser Stelle gekämpft, und in der Hitze der Auseinandersetzung seien eben die Fußabdrücke des Heiligen zurückgeblieben.

Altarbild: Gallus (links) verabschiedet sich von Maginold, 1637, in der Galluskapelle in Scheidegg
Altarbild: Gallus (links) verabschiedet sich von Maginold, 1637, in der Galluskapelle in Scheidegg

Bald darauf entstand rund um seine einfache Behausung eine erste kleine Mönchsgemeinschaft. Eine Legende aus dem nahen Allgäu erzählt, einer seiner Gefährten sei ein gewisser Maginold gewesen. Die beiden seien miteinander Richtung Allgäu gewandert, um dort die Lehre Christi zu verkünden. Bei Scheidegg hätten sie sich getrennt, und von diesem Scheiden habe dieses Dorf dann eben seinen Namen bekommen.

Dass dieser Maginold – es geht bei ihm um den hl. Magnus, den späteren Patron des Allgäus – ein Gefährte des Gallus gewesen sei, müsse auf einer Verwechslung beruhen, die aber bereits im 9. Jahrhundert entstanden sei, heißt es in einem neueren Werk mit Heiligen-Biografien. Die zeitlichen Angaben in den Lebensbeschreibungen der beiden Reisegefährten wollen nämlich absolut nicht zusammenpassen: Gallus starb im Jahre 640, erst ein gutes halbes Jahrhundert später soll der erwähnte Maginold das Licht der Welt erblickt haben, in der Nähe von St. Gallen übrigens. Natürlich wäre hier auch an einen anderen Träger dieses Namens zu denken, der hl. Magnus – gelegentlich auch Magnoald genannt – soll ja laut Legende erst durch einen seiner Begleiter zu seinem Namen gekommen sein. Dieser hatte nämlich beobachtet, wie er in der Gegend von Kempten eine riesige Schlange, manche sprachen sogar von einem Drachen, unschädlich gemacht hatte, und daraufhin habe der Begleiter gesagt: Du sollst nicht mehr Magnoald heißen, sondern Magnus (der Große)!

Ganz ähnliche Worte soll einst auch einer hier in Bregenz gesprochen haben. Er war blind und bat Magnoald, der ihm gerade entgegenkam, um etwas Nahrung. Da sagte dieser: Öffne deine Augen, ich beschwöre dich, daß du sehest und mit deinen Händen arbeitest und auch Nahrung erwerben kannst. Als er dies nun gesagt hatte, bestrich er die Augen des Blinden mit seinem Speichel und sogleich, nachdem Blut aus seinen Augen geflossen war, empfing der Blinde das Gesicht, warf sich nieder und sprach: Herr, ich sehe, daß du groß (magnus) bist und deine Werke groß sind, und daher will ich dir, wenn du willst, folgen, wohin du gehst.

Die gerade geschilderte Szene ist von einem St. Gallener Mönch bildlich festgehalten worden, wobei die Darstellung der Stadt mit Kirchen und See zwar kaum Anspruch auf Wirklichkeitstreue erhebt, aber immerhin als älteste Stadtansicht von Bregenz gelten kann. Bei den Mauern, an welche die Wellen des Bodensees schlagen, könnte es sich um jene des Mehrerauer Klosters handeln. Dieses Benediktinerkloster war zur Zeit des Entstehens dieses Bildes nämlich gerade etwa zehn Jahren zuvor eingeweiht worden. …

In die Nähe des hl. Gallus dürfte dieser Magnoald wohl nur über eine Legende gekommen ist, bei der es offensichtlich darauf ankam, die beiden Heiligen in eine Nahbeziehung zu bringen. Dazu könnten sogar Begegnungen mit Bären gehört haben, die unter anderem vom späteren Käferheiligen berichtet werden. Nicht zuletzt passte auch jene erwähnte Abschieds-Legende dazu, der die Westallgäuer Ortschaft Scheidegg ihren Namen verdanken soll, wofür es natürlich auch andere Erklärungen gibt. Der Name ist erst nach dem 13. Jahrhundert nachweisbar und dürfte auf jene Bergausläufer (egge) zurückgehen, wo sich die Wasser der Rot- und Leiblach trennen.

Gallus soll das patriarchalische Alter von 95 Jahren erreicht haben. Nach seinem Tod habe sich sein Leichnam nicht von der Stelle bewegen und zu dem in Arbon bereits vorbereiteten Grab bringen lassen. Der Konstanzer Bischof wusste guten Rat: In so einem Fall mussten dann eben so genannte weisende Tiere den Willen des Himmels deutlich machen. Prompt brachten dann zwei ungezähmte Pferde den Sarg mit dem Leichnam auf dem kürzesten Weg zur ehemaligen Einsiedlerzelle.

Seinen Todestag, den 16. Oktober, kannten in früheren Zeiten sicher alle jene, die irgendetwas mit bäuerlicher Arbeit und mit Tieren zu tun hatten, galt doch zum Beispiel: Nach Sankt Gall’ ghört d’Kuah in Stall. Ganz besonders geläufig war sein Tag aber auch der dörflichen Jugend, denn nach dem Gallitag war Obst, das sich noch auf den Bäumen befand, Allgemeingut: Galli ist gsi, was uf da Bömma ist, ghört mi!, hieß es dann.

Bald wurde sein Grab dann auch das Ziel vieler Wallfahrer. Etwa hundert Jahre später errichtete der Alamanne Otmar von St. Gallen, der im rätischen Chur erzogen worden war, am Ort des Gallusgrabes ein Kloster, und nahe der Abtei entwickelte sich aus einer Niederlassung von Gotteshausleuten die Stadt St. Gallen. Und natürlich wurde der irische Missionar Patron des Klosters, der Diözese, des Kantons und der Stadt selbst. Keine andere Stadt der Welt verdankt ihre Existenz ihrem Patron und kann ihren Namens- und Geburtstag am selben Tag feiern, wie dies St. Gallen am 16. Oktober tut.

In der dortigen Kathedrale hängt heute noch ein uraltes Glöcklein, die Gallus-Glocke. Ob sie von Iren oder gar von Kolumban oder Gallus aus ihrer Zeit des Bregenzer Aufenthalts herstammt, ist nicht beweisbar, auch wenn die Inschrift auf der clocc Folgendes berichtet:

Anno 612 hat diß für sein Gloggen Gebraucht der H: Gallus in seiner Wohnung zu S: Gallenstein bey Bregenz. Sowohl Inschrift als auch Bemalung stammen aus dem 18. Jahrhundert. Es ist dies jene Zeit, in der Kaiser Joseph II. die Kirchen säuberte. Ein vorausblickender Landvogt rettete damals das ehrwürdige Stück und schenkte es dem St. Galler Fürstabt, der sich dafür mit einem schönen Messgewand revanchierte.

Die Gallus-Glocke könnte nicht ohne gute Gründe auch als Kolumban-Glocke und gleichzeitig wohl auch als älteste Kirchenglocke unseres Kontinents bezeichnet werden. Was damals ums Jahr 610 in Bregenz von ihr zu hören gewesen war, hatte wahrscheinlich noch um einiges besser geklungen; würde man sie heute läuten, wäre wohl mehr oder weniger nur noch brüchiges Blech zu vernehmen.

An dieser Stelle muss noch darauf hingewiesen werden, dass das ehrwürdige Stück seinen Klöppel wahrscheinlich erst in barocker Zeit bekommen hat und die Glocke früher einfach von außen angeschlagen wurde. Für die enge Verbindung mit der Grünen Insel spricht bei dieser schmucklosen, eher rechteckigen als runden Handglocke aus Eisenblech auch ihr Name, schließlich ist ja unser Wort Glocke ein irisches Lehnwort.

Dass Gallus als Ruhelager eine Sandsteinplatte bevorzugt habe, ist bereits erwähnt worden. Auf der Suche nach diesem legendären Stein werden wir auch in der sogenannten Embser Chronik, dem ersten in unserem Land gedruckten Buch, fündig. Dort heißt es nämlich von unserem Glaubensboten in Bregenz: er hat auch eine zeitlang daselbst gewohnet onder dem Schloß Bregentz / bey einem Felsen St. Gallen Stein genandt / dessen anzeigungen noch im selben Felsen gesehen werden. Genaueres erfahren wir durch einen Hinweis des Kreisamtskanzlisten Josef Gebhard Roder, der vor etwa hundert Jahren in seinem Büchlein Bregenz vor 50 Jahren von der St.-Gallenstein-Kapelle an der Siechensteig schreibt, in ihrem Inneren sei vorne im Presbyterium auf der linken Seite ein großer Felsen mit einer Höhlung zu sehen gewesen. In dieser solle der hl. Gallus während seines Aufenthalts in Bregenz gewohnt haben. Auf Ansichten der Stadt aus dem 17. Jahrhundert ist die Sankt-Gallenstein-Kapelle gut zu erkennen. Ihre letzte Stunde kündigte sich an, als sie auf Anordnung von Kaiser Joseph II. gesperrt wurde. Zwanzig Jahre später, im Jahre 1808, war es dann so weit: Sie wurde von der bayerischen Regierung als überflüssig verkauft und bald darauf abgebrochen. Die Gallusgrotte ließ ihr neuer Besitzer einige Jahrzehnte später sprengen, und die so gewonnenen Steine verkaufte er als Baumaterial nach Lindau, wo sie wahrscheinlich beim Bau des Hafens Verwendung fanden. Das erinnert natürlich an jene Steinquader aus dem alten Benediktinerkloster Mehrerau, denen dieses Schicksal schon früher beschieden war. …

Auch der eigentliche Gallusstein fiel der aufgeklärten Zeit zum Opfer. Diese wusste mit solchen Dingen nichts anzufangen, und so wurde er zerschlagen. Ein Augenzeuge beschreibt ihn als Sandsteinplatte in der Form eines länglichen Vierecks, in der deutlich der Abdruck eines liegenden menschlichen Körpers sichtbar war. Nach alter Überlieferung soll der Fieberstein dagegen ebenfalls nach Lindau befördert und dort zum Hafenbau verwendet worden sein. Er hätte also ebenso überlebt wie die zwei Glöcklein der St.-Gallenstein-Kirche, denn sie kamen zwölf Jahre später in die Wallfahrtskirche auf dem Gebhardsberg. Diese war im Jahre 1791 abgebrannt, aber noch im gleichen Jahr wieder aufgebaut worden. Nun, im Jahre 1820, wurde ihr ein zierliches Türmchen aufgesetzt, und die beiden Glocken – auf beiden ist unter anderem auch der hl. Gallus dargestellt – fanden eine neue Heimat.

Vom bereits erwähnten Kirchlein, das Gallus von den Bildern und Statuen der heidnischen Gottheiten gesäubert hatte, heißt es, es sei eine einstige Aurelia-Kirche gewesen. Andere Biografen berichten, Kolumban habe es anschließend der hl. Aurelia geweiht, deren Reliquien er damals von Straßburg mitge-bracht hatte. Das hat etwas für sich, denn die elsässische Stadt war eine seiner Stationen während seiner Fahrt rheinaufwärts auf dem Weg an den Bodensee gewesen.

Aus: Franz Elsensohn: Kolumban und Gallus. In: ders.: Sagenhaftes Bregenz. Eigenverlag, Bregenz 2010

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Autor: Joachim Schäfer - zuletzt aktualisiert am 17.09.2020
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