Ökumenisches Heiligenlexikon

Gervasius und Protasius: Historischer Kern


Die Beschäftigung mit den Biographien der Heiligen und Seligen aus den Zeiträumen Antike und Mittelalter lassen bei manchen der Beschreibungen den Wunsch aufkommen, auf den historischen Kern der Erzählungen zu stoßen, der hinter so mancher Legende verborgen sein könnte.
Bei derartigen Versuchen ist es unerlässlich, sich mit den zurückliegenden Gegebenheiten und den einst agierenden Personen auseinander zu setzen, wobei die unterschiedlichsten Quellen erschlossen werden sollten.
Nach dem Studium der verschiedenen über die Märtyrer Gervasius und Protasius kursierenden Beschreibungen erscheint der Versuch, auf eine historische Wahrheit zu kommen, äußerst reizvoll.

Bekannt wurden die beiden Heiligen in Mediolanum (Mailand) im 4. Jahrhundert, bald nach der Verabschiedung des Dreikaiseredikts (Cunctos populos) vom 28. Februar 380, mit dem die nominelle Religionsfreiheit im Römischen Reich beendet wurde, und das als wesentlicher Schritt für die Anerkennung des Christentums als Staatsreligion (391) gilt.

Im Osten des Römischen Reiches regierte Kaiser Theodosius I. (Flavius Theodosius), der von den Kirchenvertretern wegen seiner energischen Religionspolitik als der Große tituliert wurde. Der Westen des Imperiums war Kaiser Valentinian II. anvertraut, der allerdings nicht uneingeschränkt agieren konnte.

Im Bistum Mailand wurde, wie in der übrigen damaligen Kirche auch, zwischen Trinitariern und Arianern gestritten.
Als 374 – nach dem Tod des Arianers Auxentius – eine Bischofswahl anstand, fiel die Wahl auf den römischen Politiker Ambrosius. Entgegen den Erwartungen der Arianer setzte sich Ambrosius erfolgreich für die nizänische Richtung ein. In seinen langjährigen Kämpfen gegen die Arianer, die besonders den Hof Kaiser Valentinians II. in Mailand dominierten, wandte Ambrosius abwechselnd theologische und politische Methoden an. Zunächst nutzte er seinen Einfluss, um die Arianer in der illyrischen Kirchenverwaltung zurückzudrängen. 381 sorgte er auf der RegionalsynodeSynode (altgriech. für Zusammenkunft) bezeichnet eine Versammlung in kirchlichen Angelegenheiten. In der alten Kirche wurden "Konzil" und "Synode" synonym gebraucht. In der römisch-katholischen Kirche sind Synoden Bischofsversammlungen zu bestimmten Themen, aber mit geringerem Rang als Konzile. In evangelischen Kirchen werden nur die altkirchlichen Versammlungen als Konzile, die neuzeitlichen Versammlungen als Synode bezeichnet. von Aquileia für die Absetzung des illyrischen Bischofs Palladius und dessen Presbyter Secundinus. Als die Arianer beim Kaiserhof vorstellig wurden, um in Mailand zumindest eine Kirche vor den Toren der Stadt zugesprochen zu bekommen, schaltete sich Ambrosius ein und mobilisierte seine Anhängerschaft in der Mailänder Bevölkerung. Diese Art des zivilen Ungehorsams, im autokratischen Römischen Reich der Spätantike ein unerhörter Affront, rechtfertigte er damit, dass in religiösen Dingen nicht der Kaiser, sondern die kirchlichen Amtsträger zu entscheiden hätten. Insbesondere die Kaisermutter Justina zeigte Sympathien für die arianische Seite, konnte sich aber gegen den selbstbewusst auftretenden Ambrosius nicht durchsetzen.
Nachdem jedoch Valentinian, arianisch gesinnt wie seine Mutter, am 23. Januar 386 durch ein regelrechtes Toleranzedikt nichtorthodoxe Gottesdienste erlaubt und jede Störung unter strenge Strafe gestellt hatte, wiederholte Justina zu Ostern ihren Versuch, nun bereits mit einer Stadtbasilika.
Und abermals bot ihr Ambrosius Paroli. Erst vergewisserte er sich des Beistands seiner Nachbarkollegen, dann hielt er die bedrohten Kirchen Tag und Nacht durch eine Art ewiger Anbetung besetzt, ließ in dieser heiligen Gefangenschaft (Augustinus) predigen und Hymnen singen. Unter den Katholiken verteilte er Goldstücke, die entschlossen waren zu sterben mit ihrem Bischof (Augustinus), eher zu sterben, als ihren Bischof zu lassen (Kirchenhistoriker Sozomenos, † um 450), wie sich auch Ambrosius seinerseits unentwegt zum Martyrium bereit erklärte, alles erdulden wollte um Christus willen.

Bekannt ist, dass Ambrosius einen wahrhaft gottbegnadeten Spürsinn besaß, für alles, was er brauchte. Drastisch zeigt dies seine Entdeckung zweier Märtyrer, gerade im richtigen Moment: auf dem Höhepunkt des Mailänder Kulturkampfes im Frühsommer des Jahres 386 – zur Bändigung der Wut jenes Weibes, wie Augustinus berichtete.
Die Forschung spricht von den ambrosianischen Märtyrern (Historiker Eugen Ewig) und von Ambrosius selber als dem Wegbereiter und Förderer der Märtyrerverehrung im Abendland und zwar – treffend bemerkt – in besonderer Weise (Kirchenhistoriker, Patrologe Ernst Dassmann).

Ambrosius hatte damals ein bestimmtes brennendes Gefühl, die Gebeine irgendwelcher Märtyrer zu finden, weil ja die Mailänder für die neu erbaute und erst eingeweihte Basilica Ambrosiana stürmisch einen Reliquienschatz wünschten.
Und tatsächlich, die hl. Gervasius und Protasius, bisher aller Welt unbekannt, teilten Ambrosius im Traum mit, dass sie in einer Kirche ruhten und ans Licht gebracht werden wollten. Kraft seiner glühenden Ahnung (ardor praesagii) ging er der Sache nach und hob am Mittwoch, dem 17. Juni 386, wirklich in der Basilica Felicis et Naboris, umringt von einer Schar Gläubiger, vor Ergriffenheit kaum mehr des Sprechens fähig, i corpi venerati di Santi Martiri Gervaso e Protaso, die verehrten Körper der Heiligen Märtyrer Gervasius und Protasius (Salesianer Gabriele Zulli), die kostbaren Blutzeugen, unverwest (Augustinus) aus der Tiefe. Die Erde war sogar noch gerötet vom Blut der Helden, enthaupteter Riesen, wusste Ambrosius, wie sie die alten Zeiten hervorbrachten. Kein Wunder, dass die Gelehrten grübelten, welch teuflischem Christenverfolger sie diese ebenso furchtbare wie fruchtbare Blutschuld in die kaiserlichen Schuhe schieben sollten. Ein Experte wie Gabriele Zulli musste gestehen: Ancora oggi la questione non é definita, auch heute ist diese Frage nicht entschieden. Ein gottgefälliger Akt, den der schwer geprüfte Bekennerbischof (Johannes Evangelist Niederhuber) offensichtlich zur Entfachung der Glaubensinbrunst seiner Kämpfer für die gerechte Sache inszenierte, was seinen Sieg bedeutete. Diese Meinung vertraten Ambrosius’ Biograph Paulinus von Mailand und Augustinus, die damals in Mailand wohnten. Der kaiserliche Hof hielt das Ganze allerdings für ein abgekartetes Spiel. Auch später schworen nicht alle Experten darauf. Charles William Previté-Orton sprach vom frommen Betrug, der Historiker Ernst Edward Stein von einem großangelegten Betrug, währen der Protestant Hans Erich Freiherr von Campenhausen in all dem nichts fand, was einen Verdacht gegen die Ehrlichkeit des Ambrosius begründen müsste.

Von der modernen Forschung wird betont, dass die näheren Umstände der martyrologischen Aktivität, die Gebeinauffindung, das Bergen und Identifizieren von Ambrosius bemerkenswert nüchtern und äußerst kapp beschrieben wurde, was manche Frage offen lasse.

Interessant ist auch, wie schnell Bischof Ambrosius die kaum entdeckten ehrwürdigen Leichen wieder verschwinden ließ, was die meisten Kommentatoren stillschweigend übergehen. Ernst Dassmann, der sich 1975 über diese Eile Gedanken gemacht hatte, erklärte sie – wenig einleuchtend – durch das angebliche Bemühen, den Frieden nicht erneut zu gefährden und durch ein Missbehagen gegenüber der Zurschaustellung unbestatteter Gebeine. Fest steht das große Drängen des Bischofs auf eine rasche Bestattung und das nicht minder große Drängen des Volkes auf das Gegenteil. Die zahlreich versammelte Menge forderte eine Aufschiebung der Bestattung bis zum nächsten Sonntag, was der spätere Heilige nur mit Mühe verhindern konnte.

Der Triumph war beträchtlich. Prompt folgten die erwarteten Wunder, die kein geringerer als Augustinus bezeugte. Ein Blinder, der den Reliquienschrein mit seinem Schweißtuch berührte, der Schlachter Severus, erhielt sein Augenlicht wieder, Besessene und andere Kranke fanden Heilung.
Ambrosius hatte nun endlich seinen Reliquienschatz und in zwei Festpredigten feierte er Gervasius und Protasius als Verteidiger der Orthodoxie und gab dem Ganzen die authentische Deutung: Seht nur alle, das sind die Bundesgenossen, die ich mir aussuche. Er betete: Herr Jesus, Dir sei Dank, dass du uns in solcher Zeit den starken Geist der heiligen Märtyrer wiedererweckt hast.
Bald darauf weihte die reiche römische Matrone Vestina den hl. Mailänder Duldern eine umfangreiche Stiftung, Liegenschaften in Rom, Chiusi, Fondi und Cassino samt den Zinseinkünften von rund 1000 Aurei Solidi (Goldmünzen á 4,55 Gramm).

Rasch verbreitete sich der von Ambrosius geförderte Kult über Westeuropa und – durch Augustinus – in Afrika. Allein im merowingischen Gallien gab es bald sechs den Märtyrern Gervasius und Protasius geweihte Kathedralen sowie viele weiter Gervasius- und Protasius-Kirchen, bis nach Trier und Andernach.
Schließlich hatte man Reliquien der beiden Blutzeugen ringsum in solcher Zahl, dass es zur Erklärung neuer Wunderberichte bedurfte. Diese gipfelten in der wunderbaren Auffindung der nächsten unbekannten Helden Agricola und Vitalis im Jahr 393 und zwei Jahre später wurden die Heiligen Nazarius und Celsus gefunden.

Über das Leben und Wirken von Gervasius und Protasius ist so gut wie nichts bekannt.
Für das Todesjahr der beiden legendären Heiligen finden sich äußerst unterschiedliche, weit auseinanderliegende Angaben, wobei sich die Jahreszahlen möglichen Verfolgungen nur bedingt zuordnen lassen.

Die bestgehassten römischen Kaiser der christlichen Hagiographen sind Nero und Diokletian. Es verwundert daher nicht, dass die beiden Blutzeugen ihr Martyrium, den gängigen Legenden nach, entweder unter dem erstgenannten Herrscher oder unter dem zweiten erlitten haben sollen.
Obwohl in den verschiedenen Heiligenlexika zu lesen ist, dass über das Leben der in Rede stehenden Heiligen nichts bekannt ist, gibt es Berichte, wonach sie Zwillingsbrüder waren und der edle Ritter, der um 60 in Ravenna verstorbene Vitalis ihr Vater und dessen Frau Valeria ihre Mutter war. Sie sollen gemeinsam mit ihrem Vater – nach anderen Berichten mit ihren Eltern – von Gaius von Mailand getauft worden sein. Der angeblich um 85 verstorbene Gaius war der Legende nach ein früher Bischof von Mailand, dessen Existenz nicht erwiesen ist.
Die nach der Legende allem Anschein nach in Mailand getauften Zwillinge lebten in Rom, wo sie während der Regierungszeit des Kaisers Nero – möglicherweise schon im Jahr 60 – ohne ersichtlichem Grund verhaftet wurden. Die Brüder wurden nach Mailand gebracht, wo schon um 60 ihre Mutter während der angeblichen neronischen Christenverfolgung den Tod erlitten haben soll. In dieser Stadt sollten sie – so die Legende – dem Statthalter Astasius durch die Anrufung paganer Götter zu einem Sieg verhelfen. Aufgrund ihrer Ablehnung wurden sie zunächst inhaftiert. Im Gefängnis soll sie noch der 304 hingerichtete Nazarius besucht haben, der mit ihnen sterben wollte. Sein Wunsch ging jedoch – nach einer der vorliegenden Legenden - nicht in Erfüllung, denn er wurde aus der Stadt getrieben. Anschließend wurde Gervasius mit Bleigeißeln zu Tode gepeitscht und Protasius enthauptet.

Unter Beibehaltung der Eltern – Vitalis und Valeria – die ja schon um das Jahr 60 ihr Leben verloren haben sollen, wird berichtet, dass die beiden Märtyrer erst um das Jahr 300 sterben mussten.
Damit wäre die Anprangerung der diokletianischen Christenverfolgung (303 – 305) geschafft, die in Italien Kaiser Maximianus zu verantworten hatte und die im Vergleich mit dem Osten des Römischen Reiches relativ harmlos verlief.
Neben diesen hauptsächlich angeführten Zeiten und Kaisern gibt es aber auch noch Berichte, dass Gervasius und Protasius ihre Märtyrerkronen unter den Kaisern Domitian (81 – 96), Antoninus Pius (138 - 161) oder Mark Aurel (161 – 180) errungen haben.

Auf einen historischen Kern wird man auch bei weiterem Suchen kaum stoßen und die Existenz von Gervasius und Protasius muss dem Glauben überlassen bleiben.

Prof. Helmut Bouzek, E-Mail vom 15. Februar 2012

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Autor: Prof. Helmut Bouzek - zuletzt aktualisiert am 01.05.2018
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