Ökumenisches Heiligenlexikon

Die Legende der seligen Diemud


UNTER DEM SCHLEIER

In den gewohnten strengen Duft von Farbe und Terpentin, untermengt nur mit einem leichten Quentlein Weihrauch, wie es wohl vom Chorgebet im Gewände einer Nonne haften mag, mischt sich heute ein weltliches Rüchlein. Doch weht dies nicht etwa von dem hocherblühten Rosenstrauch herein, der draußen vor der dicken Klostermauer üppig emporrankt und mit beiden Armen das hochgelegene Zellenfenster umklammert, als sei er ein heißer Anruf der Frau Welt an das Herz der gott- geweihten Jungfrau — nein, das fremde Rüchlein dringt nicht von dem Rosenstrauß draußen herein, und das Herz der Jungfrau Diemud ist wider solche Anrufe längst gefeit. Das weltliche Rüchlein weht vielmehr ganz vermessen durch die Zelle selber und kommt aus den Gewandfalten der Frau Pfalzgräfin Adelheid, die da inmitten des schmalen Gemaches auf dem einzigen Stuhle thront und sich mit schweifenden Blicken in dieser un- gewohnten Umgebung ergeht. So eng ist die Zelle, daß die rauschenden Wellen des gräflichen Rockes sich auf der einen Seite bis an den hölzernen Rahmen des Bettgehäuses ergießen, nach vorne aber sogar noch eine gute Strecke weit unter den Tisch wallen, der dicht unterm Fenster steht und über und über mit Pergamentblättern und Rollen, mit Schreibzeug und Malgerät bedeckt ist. Nach der ändern Seite hin aber verebbt das seidene Gc- riesel in jähem Stillstand, wie vor einer unsichtbaren Mauer, dicht vor den Füßen der Jungfrau Diemud, die hoch und schmal vor der Wand neben dem Betschemel steht, als wage es deren grobe Sandalen nicht zu über- fluten, ja nicht einmal zu berühren.

Vor der weißen Wand neben dem roh gezimmerten Betschemel steht die Jungfrau, schmal und hoch; nur das Haupt unter dem Schleier ist leicht gesenkt und etwas nach vorne geneigt, als könne sie so die Härte dieses Stehens vor ihrem hohen Gast ein wenig mildern. Denn auf den Betschemel niederzusitzen, das ziemt sich nicht, und knien darf eine gottgeweihte Nonne nur vor dem Stellvertreter Gottes, nicht aber vor einer weltlichen Frau.

Die Frau Pfalzgräfin Adelheid also sieht sich mit schweifenden Blicken in dieser ungewohnten Umgebung um. Dann aber sammelt sie, mit einem kleinen Ruck .des Besinnens in ihrem großlinigen, etwas herben Gesicht, das in seltsamem Gegensatz zu der Fülle ihres Körpers steht, diese zerstreuten Blicke und neigt sich leicht gegen den Tisch vor, indem ihre beringten Hände behutsam nach den ausgebreiteten Blättern greifen.

In den graugrünen Augen kommt ein leises Staunen auf. Sie lesen da: Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde. — Doch was ist dies nur für ein seltsames Wundergebilde, aus dem dieses Anfang quillt? Ist es das Zeichen für ein fremdes Rätsel, von dem sie noch nie gehört, — ist es ein dunkler See oder ein glühender Abgrund, oder ist es nichts andres als ein großes, hinter Schleiern wogendes Herz? Die Frau Gräfin kann es nicht erkennen; sie wiegt ganz leise, unmerklich fast, den Kopf, — dann hebt sie ein geschliffenes Glas vor die Augen und neigt sich ein wenig tiefer über das Blatt. Es wird wohl doch das Zeichen für ein fremdes Rätsel sein; die weltabgeschiedenen Nonnen haben so ihre eigenen Bilder, denkt sie — und blickt einen Schritt weiter. Das Wort Gott flammt vor ihren kurzsichtigen Augen auf; sie senkt das schärfende Glas wieder tiefer, um sein Antlitz klar zu sehen. Aber der Gott dieser Nonne Diemud hat ja gar kein Antlitz, — er ist ja nur wie ein starkes Licht, das hinter den Dingen steht und ihre Grenzen aus- löscht — oder man kann auch denken, daß einer blind würde, wenn dieses Licht plötzlich ein Antlitz gewänne.

Und noch einmal wiegt die Frau Gräfin leise den Kopf, und wieder gleitet ihr Blick weiter, zum nächsten Bild. Und das ist der Himmel. Von goldschimmerndem Blau ist sein Grund, mit Sternen durchwirkt; an seinem Tor aber steht ein großer, flammengepänzerter Engel. Das kann die Frau Gräfin schon deutlicher erkennen, auch ohne Glas. Und dann sind die graugrünen Augen endlich bei der Erde angelangt. Strahlend geht die Sonne über den Hügeln auf; üppiges Blumengewinde schlingt sich um den Stamm eines fruchtbaren Baumes; um sein Wurzelwerk aber ringelt sich, dunkelschillernd, die Schlange.

Das ist nun ganz klar, was die Nonne Diemud damit meint. Aber was da völlig zum Verwundern bleibt, das sind die leuchtenden Farben, das köstliche Gold, die edle Form dieser zarten Gebilde — kein Maler in der Residenz, der die Betbücher der hohen Herrschaften malt, vermag dies auf kostbarere Weise. Nein, es ist wahrhaftig nicht zuviel, was die Base Wulfhildis, die seit kurzem hier zu Wessobrunn den Schleier trägt, von dieser Malschwester gerühmt hat.

Die Frau Pfalzgräfin legt das Blatt sachte zurück und läßt die Rechte mit dem geschliffenen Glas langsam sinken. Das Staunen steht nun groß in ihrem Blick. Wollet Ihr es denn also übernehmen, Jungfrau Diemud, mein Mündel Herluka in Eurer Kunst zu unterrichten? Die graugrünen Augen heben sich fragend zu dem Antlitz auf, über das der Schleier schattet.

Der mich in allem unterweist, wird gewiß auch Euer Mündel künftig lehren, edle Frau.

Da ächzt der grobe hölzerne Stuhl leise unter dem Ruck des üppigen Leibes, und die Wellen des seidenen Rockes lecken plötzlich am Sandalenrand der Nonne empor. Ihr wollet also nicht, Jungfrau Diemud? Es klingt befremdet.

Unter dem Schleier quillt ein leichtes Rot über die blassen Wangen. Dies habe ich nicht gemeint, edle Frau — wollet mir verzeihen. Lasset Euer Mündel kommen, wann es Euch gut dünkt.

Und wiederum wiegt sich das Gesicht mit den großlinigen, etwas herben Zügen über den vollen Schultern, und die Frau Pfalzgräfin Adelheid denkt zum ändern Male, daß die weltabgeschiedenen Nonnen eine sonderliehe Sprache reden, die nicht jedermann sogleich versteht, — und dies nicht nur mit ihren Lippen, sondern wohl noch mehr in ihren Herzen.

*

Das weltliche Rüchlein, das sich mit dem Seidenkleid der Frau Pfalzgräfin Adelheid in die Zelle der gottgeweihten Nonne Diemud eingeschlichen, will nimmer sobald aus dem kahlen Räume weichen. Vielmehr schleicht es sich in den kommenden Tagen und Wochen sogar in das schwarze Gewand der Jungfrau selber ein, da sie nun jeden Morgen, in einem weiten Schreibsaal, Seite an Seite mit dem edlen Fräulein Herluka am Maltisch sitzt und sie in der Kunst des Buchmalens unterweist, wie es der Herr Abt auf die dringende Bitte der Frau Pfalzgräfin verstattet hat.

Das Fräulein Herluka hat eine leichte und geschickte Hand, und sie lernt es bald, recht artig mit Pinsel und Farbe umzugehen; das kommt, weil sie auch mit der Nadel und mit goldenem und seidenen Faden gar wohl zu hantieren versteht, was sie bei der Frau Tante seit früher Jugend geübt hat. Wenn sie sich eifrig über den Tisch mit den elfenbeinfarbenen Blättern beugt, so fällt ihr das Geringel der hellen Locken tief in die Stirn, und die jungen Wangen sind mit einem feinen Rot überzogen. Die Augen der Jungfrau Diemud sehen es, und sie denkt, dies wäre ein liebliches Bild, einen knieenden Engel also zu malen.

Aber wenn das Fräulein Herluka dann mitten in der Arbeit plötzlich den Pinsel auf den Tisch fallen läßt und mit einem Ruck das Geringel der Locken aus der weißen Stirn schüttelt, daß davon ein kleines Windlein über die aufgerollten Blätter hingeht; wenn sie ihre blauen Augen wie muntere Vögel durch den lichten Raum flattern läßt: dann ist der knieende Engel miteins hinweggeflogen und die Jungfrau Diemud denkt nun wieder, so müsse man wohl das Antlitz der Mutter Eva malen — Höret, Jungfrau Diemud, was ich Euch verraten will, plaudert unbefangen der blühende Mund, da das Fräulein Herluka den Blick unter dem Schleier warm auf sich ruhen fühlt. Ich will ein feines Blatt malen, mit einem Gedicht darauf, als Geschenk für — für — nun ja, für jemand, der mir recht sehr nahe steht —. Die flatternden blauen Vögel haben sich für einen Augen- blick scheu versteckt, und das zarte Rot des knieenden Engels rinnt tief in den feinen Hals. Aber gleich darauf plaudert Eva weiter. Es ist ein gar schönes Gedicht, das ich malen will — von der Frau Minne, wie sie in gol- denem Wagen über die Erde fährt, Blumen in Haar und Händen, und wie alle Geschöpfe ihr jubelnd huldigen.

Von den schmalen Lippen unter dem Schleier kommt keine Antwort; nur ein leises Lächeln umspielt sie. Das gibt dem jungen Munde Mut, und er plaudert weiter. O ich weiß wohl, wie ich das Blatt malen will — von einem Geranke roter und goldener Rosen umrahmt, darinnen bunte Vögel singen. Hell und leuchtend müssen alle Farben sein, so, als scheine immerzu die Sonne dar- auf. Und die Frau Minne selber in ihrem Wagen ist gar jung und schön, und sie trägt ein prächtig schimmern- des Gewand. Was aber ratet Ihr, Jungfrau Diemud, daß sie in ihren Händen tragen soll? Etwa einen Kranz von Blüten, oder ein goldenes Netz, damit sie die Herzen fängt?

Von den blassen Lippen kommt noch immer keine Antwort. Da springt jäh ein loser Schalk in Evas Augen, und in ihre helle Stimme wagt sich ein kleines Kichern — wenn es auch beinahe zaghaft klingt: Oder weiß eine gottgeweihte Jungfrau am Ende gar nicht, wer die Frau Minne ist?

Die Falten des schwarzen Nonnengewandes stehen hart, wie ein steiler Abhang, vor dem bunten Seidenrock, der wie ein spielendes Wölklein daran abgleitet. Unter dem Schleier hervor aber fließt dunkles Rot über das blasse Antlitz, als sei eine tiefe Wunde darunter aufgebrochen, und eine fremde und sehr klare Stimme spricht — es tönt wie eine Glocke: „Ich kenne die Frau Minne wohl. Doch da sie mir begegnete, trug sie einen Kranz von Dornen in den Händen, und ihr Herz war durch- bohrt — bis auf den Grund.

An diesem Abend vor dem Schlafengehen denkt auch das Fräulein Herluka in ihrer stillen Gästestube, daß die veitabgeschiedenen Nonnen eine gar sonderliche Sprache reden. Aber sie schüttelt darob nicht den Kopf mit den blonden Locken, sondern sie liegt noch viele Stunden wach und schaut mit weitgeöffneten Augen ins Dunkel — solange, bis das Bild der Frau Minne mit dem durch- bohrten Herzen tief hinabgesunken ist in ihr eigenes Herz.

*

Diemud!

Bist Du es, Herr, der mich ruft — mitten in der Nacht?

Ich bin es, Diemud.

Was ist es, das Du von mir verlangst, Herr?

Ich verlange nichts von dir, Diemud. Ich will dich etwas bitten.

Was ist dies, Herr, daß Du es von mir bitten magst, da doch alles Meinige Dein ist?

Meine Gnade schenkte dir ein Köstliches, Diemud — das muß ich von dir zurückbitten.

Ist es mein Leben, Herr?

Dein Leben ist es nicht, Diemud.

Oder ist es wohl das Licht meiner Augen, Herr?

Das Licht deiner Augen sollst du mir nicht geben, Diemud.

Es ist doch nicht die süße Gnade Deiner Minne, die Du von mir nehmen willst, Herr?

Die hohe Gnade meiner Minne soll immer bei dir bleiben, Diemud.

Was ist es also, Herr, das Du von mir bitten magst, da ich doch darüber nichts mehr habe?

Weißt du es wirklich nicht, Diemud? Es ist eine sonderliche Gabe, die ich dir allein vor allen deinen Schwe- stern schenkte.

Warum kommt nun auf einmal keine Antwort mehr von der gottgeweihten Jungfrau, die da nichts hat über die süße Gnade ihrer Minne? —

Diemud!

Ja, Herr?

Weißt du es wirklich nicht, was ich von dir bitten will, Diemud?

Du kannst doch nicht etwa meine arme, geringe Kunst meinen, Herr?

Ich meine sie, Diemud.

Ach Herr — Du weißt, daß meine Kunst mir lieb ist wie mein Leben.

Wenn sie dir lieb wie dein Leben ist, Diemud, so be- halte sie — denn ich versprach, dein Leben nicht von dir zu nehmen.

Warum kommt abermals keine Antwort mehr von der gottgeweihten Jungfrau, die doch nichts hat über die süße Minne ihres Herrn? Schläft sie denn nun?

Diemud!

Ich wache, Herr!

Ich will dich nicht quälen, Diemud. Es hat nur einer zu mir gerufen aus großer Not, ein Maler — er lebt in der Welt, und sein rechter Arm ist ihm lahm geworden über Nacht; nun ist er seiner Kunst nimmer mächtig und darbt mit Weib und Kind. Aber er ist ein Sünder; er verdient es nicht, daß ich ihn erhöre. Ängstige dich nicht, meine Diemud — du hast lange gewacht, nun schlafe.

Ist dies nur der leise Ruf von den blassen Lippen einer gottgeweihten Jungfrau, der da durch die Nacht auf- steigt? Es schütten doch wie ein Schrei, vor dem die Him- mel beben!

Herr — hörst Du mich?

Bist du es, Diemud, die mich ruft — mitten in der Nacht?

ch bitte Dich, Herr — nimm es von mir, was Deine Gnade mir geschenkt hat!

Ich werde es zurücknehmen, Diemud — am Ende deines Lebens.

Nimm es von mir, Herr, ich bitte Dich — nimm es, — noch diese Nacht!

Der Herr Abt Waltho hat es nicht leicht. Er ist auch heute, wie schon so viele Male, nur zu ein paar Stunden Schlaf gekommen, und auch die waren unruhig und von Sorgen erfüllt. Der Baumeister ist dagewesen mit den Plänen für die neue Kapelle zu Ehren St. Jakobi, und man wird sich beeilen müssen, wenn vor dem Einbruch des Winters der Grund noch ausgehoben und die Vorarbeiten geschafft sein sollen. Dann sind aus der Zeit des hochseligen Vorgängers Sigibert noch etliche Schulden übrig vom Bau der neuen Pfarrkirche zum heiligen Täufer — die müssen beglichen werden, wenn man die Bauleute weiterhin günstig für sich stimmen will. Des heimlichen Herzenswunsches, der Errichtung eines würdigen Denkmals für den seligen Abt Thiento von Wessobrunn und seine Getreuen, die von den Hunnen auf dem Kreuzberg draußen erschlagen wurden, ist bei all dem noch nicht einmal Erwähnung getan.

Aber das eigentliche Sorgenkind des Herrn Abtes bleibt doch letztlich immer wieder das junge Kloster der Nonnen drüben. Nicht des Raumes wegen — der ließ sich schaffen, und auch die Kapelle des heiligen Michael ist für den Gottesdienst der Frauen recht wohl genügend. Aber es ist kein leichtes Stück für einen Abt, den Hirten- stab gleichmäßig über die Schärlein zweier so verschie- dener Herden zu schwingen, ohne daß dem Hirtenherzen dabei, zwar ganz im tiefsten Winkel, zuweilen ein unziemlicher Vergleich aufstößt. Denn auch die Lämmlein dieser Hürde, so friedlich vereint sie zur Komplet und Vesper wallen, haben dann und wann ihre störrischen Launen, — zumal wenn sie, wie gar manche von ihnen, aus goldenem Stalle stammen. Denen fällt es, so sehr sie sich auch mühen — und das tun sie gewiß — doch immer ein wenig schwer, sich im harten und engen Ge- hege der Regel zu bescheiden. Und ihretwegen muß man es immer wieder dulden, daß die herrschaftlichen Karos- sen sogar mitten in den heiligen Gezeiten den Berg herauf rollen und vor dem Tore halten; man muß immer wieder ein Auge zudrücken, wenn zur Vesperzeit ein Platz im Chorgestühle leer bleibt — ach, die lieben Gefreundeten können ja nur so selten in diesen weltabgeschiedenen Winkel kommen, und der Herr Abt dürfe nicht vergessen, daß in den Witwenschleier der vielteuren Base eine Krone eingestickt war, ehe sie ihn mit dem Nonnenschleier vertauschte. Herüben, im Kloster der Männer, ist dies doch etwas anders; denn Mönch ist Mönch, auch wenn die Wiege seiner irdischen Geburt zwischen Wänden von Marmor stand. Der Frauen Wesen aber löset sich nur schwer aus seinem Wurzelgrund.

Auch bedarf es nach diesen hohen Besuchen wohl des öfteren eines kräftigen pfingstlichen Windes, um all die Wolken oder Wölklein weltlichen Ruches wieder völlig zu vertreiben, die sich mit den seidenen Gewändern der durchlauchtigen Gäste in die geweihten Räume — und zuweilen sogar noch ein wenig tiefer einschleichen. Zuletzt war es das Fräulein Herluka, Mündel der Frau Pfalzgräfin Adelheid zu Dillingen gewesen, die bis weit in die letzten Fasten hinein allenthalben ihre süßen Duftwölklein verstreut und mit ihrem silbernen Gelächter die Stille der ernsten Gänge aufgestört hatte, so daß der Herr Abt schließlich sehr zufrieden war, als sie auf die Ostern endlich wieder zu ihrer Frau Tante heimkehrte. Denn nicht ein jedes Herz im Kloster zu Wessobrunn ist wider den Anruf der Frau Welt also gefeit, wie es das Herz der Jungfrau Diemud ist —

Nein, der Herr Abt hat es wirklich nicht leicht, und mehr denn einmal hat es ihn fast reuen wollen, daß sein frommer Eifer es an dem alten Kloster der Söhne des heiligen Benedikt nicht hat genug sein lassen, sondern vielmehr den mancherlei Stimmen Gehör schenkte, die da baten, auch seinen Töchtern hier oben auf luftiger Bergeshöhe ein bescheidenes Himmelsgärtlein zu gönnen.

Aber indem er dies denkt, kommt in das harte Sorgengesicht langsam ein weicherer Zug, und die unruhig zuckende Hand gleitet von den gelben Furchen der Stirn herunter in das dunkle Gewoge des Bartes und rastet in dessen ruhiger Kühle. Worüber sinnt denn der Herr Abt nun mit einem Male so in sich versunken, und was ruht sein Blick so unbewegt immer auf dem gleichen Fleck, nahe der Tür, da dort doch niemand steht?

Bis es ihm plötzlich wieder kommt, — wie hat er nur einen Augenblick darauf vergessen können? — was ihm in dieser Nacht den Schlaf geraubt, viel mehr noch als die Baupläne für St. Jakobus und die Schulden des hochseligen Vorgängers Sigibert. Ja, dort auf diesem Fleck, nahe der Tür, stund sie noch gestern früh, die Hohe, Sdimale, aus dem Himmelsgältlein drüben — die Jungfrau Diemud. Aber sie hat nicht, wie sonst wohl, eine Pergamentrolle im Arm getragen oder ein Malgerät, und sie hielt auch ihre Hände nicht so züchtig im Gehäuse der Ärmel verborgen, wie es einer Nonne ziemt, wenn sie vor ihren ehrwürdigen Vater tritt. Vielmehr hing ihr der rechte Arm ganz schlaff und lahm herunter; die Linke aber zupfte wie verlegen an dem Schleier, sodaß er noch tiefer über ihre Augen fiel, so, als müsse sie darunter etwas verbergen. Dennoch gewahrten die scharfen Augen des Herrn Abtes sogleich, daß die Wangen der Jungfrau gerötet waren; doch schien es nicht von Tränen, sondern vielmehr von einem heimlich zitternden Glück. Da sie nichts sagte, mußte der Herr Abt sie fragen. Und welches ist dein Wunsch, meine Tochter, daß ich ihn dir erfüllen kann, — oder welche Botschaft bringst du mir?

Und die Antwort: Ich muß es Euch bekennen, ehrwürdiger Vater, da ich doch kein Geheimnis vor Euch haben darf: aber es ist mir geschehen, daß ich künftig nimmer malen darf. Ich muß Euch die Arbeiten, die Ihr mir gäbet, unvollendet zurückbringen — wollet mir darob nicht zürnen.

Da ist der Herr Abt ganz erschrocken von seinem Stuhl aufgestanden und einen Schritt auf die Jungfrau zugegangen, und er hat gesehen, daß sie den rechten Arm nimmer heben kann. Und in seiner Stimme ist ein herzliches Erbarmen gewesen, als er zu ihr sprach: Was ist dir, meine Tochter — bist du krank? Und da sie schwieg, noch einen Ton gütiger: So möge Gott dich trösten in deinem Leid!

Doch da ist abermals eine zitternde Röte über die blassen Wangen unter dem Schleier gegangen, und von den schmalen Lippen kam es leise, abwehrend: Nein, nein — nicht so, ehrwürdiger Vater. Mir ist nur eine Gnade über alles Maß widerfahren. Und rasch hinzufügend, als sei des Verratenen schon zu viel: Ich bitte Euch, gebt mir nun andre Arbeit — lasset mir die Bücher zur Abschrift, wie es lange schon Euer Wunsch gewesen. Ich habe mich seit früher Jugend darin geübt, auch mit der Linken zu schreiben — es fällt mir so schwer nicht.

Immer noch blickt der Herr Abt auf den gleichen Fleck, nahe der Tür, obgleich dort niemand steht. Denn daß die Jungfrau bei ihm gewesen, das war schon gestern früh, und seitdem sind viele Füße hier aus- und eingegangen. Wie mag es sein, daß auf diesem kleinen Fleck am Boden schon ein heller Strahl der Sonne liegt, da doch der Tag kaum angebrochen?

Der Herr Abt erhebt sich von seinem Schreibtisch und geht zu dem langen Tisch an der Wand hinüber, darauf eine stattliche Zahl von Büchern aufgeschichtet liegt; vom Kloster Tegernsee sind sie ihm geliehen, und mit einer fast scheuen Zärtlichkeit gleitet die hagere Hand über die Lederrücken. Über allen Bauplänen und Hirtensorgen hat er den heimlichen Kummer nie vergessen können, daß sie noch immer nicht abgeschrieben sind. Ja, bauen ist schön und gut, und das Seelenheil seiner Schäflein muß einem guten Hirten vor allen ändern Dingen am Herzen liegen; aber ein Abt, der seines Klosters Bibliothek nicht pflegt und mehrt, verdient den Namen nicht. Die Hand, die ihm bei solchem Werke helfen will, soll gesegnet sein — auch wenn es nur einer schwachen Frauen Linke ist.

*

Das weltliche Rüchlein, das sich vordem in den seidenen Gewandfalten der Frau Pfalzgräfin Adelheid und ihres jungen Mündels in das enge Gemach der gottgeweihten Jungfrau eingeschlichen hatte, ist lange schon ohne Spur verweht, und auch der strenge Duft von Farbe und Terpentin hängt nur noch als ein blasses Erinnern, das mit jedem Tage schwächer wird, in dem kahlen Raum. Der wilde RosenstrauA vor dem Zellenfenster träumt noch in tiefem Schlaf, und statt seiner süßen Lockung dringt nur zuweilen der herbe Ruch umgebrochener Äcker von draußen herein, der sich geschwisterlich mit dem Quendeln Weihrauch verträgt, wie es wohl vom Chorgebet im Gewände einer Nonne haften mag. Auf dem Tisch unterm Fenster, wo früher die elfenbeinfarbenen Rollen lagen, sind nun zur Linken, ein stattlicher Berg, des Herrn Abtes kostbare Bücher geschichtet, und die märzliche Sonne muß schon hoch hinaufsteigen, wenn sie über den pergamentenen hinweg ein klein wenig in das schleierverschattete Antlitz der Jungfrau Diemud blicken will. Ihre Augen freilich bekommt auch sie kaum einmal zu sehen, denn die sind nun ganz versunken in dem Meer frommer Gelehrsamkeit, das sich seit Monden unendlich vor ihnen aufrollt. Müßte man sie, wie vordem, noch mit Pinsel und Farben malen, die tausend Bilder, die da unablässig aus diesem Meere aufsteigen — kein Leben einer armen Nonne, lückenlos gewebt aus Tagen und Nächten, wäre lang genug für solches Werk.

Nun aber hat es die Jungfrau Diemud gut. Nun muß sie sich nimmer mühen, die fliehenden mit schwacher Hand festzuhalten — nun darf sie sich ganz von den Wogen dieses Meeres ergreifen lassen, die sie in hohem Gang immer wieder mit sich forttragen bis an das andere Ufer.

Am diesseitigen Ufer aber, das weiß sie wohl, wartet drüben in seinem hohen Saal der Herr Abt mit heimlicher Ungeduld, daß sie Stein um Stein von diesem Berge zu ihrer Linken abtrage, um zu ihrer Rechten einen neuen zu erbauen — zur Mehrung für des Klosters Ehre und Reichtum. Und wenn es auch nicht, wie des Vogels Phönix Werk, an die tausend Jahre währt, so doch gar man- chen langen Tag vom Morgen bis zum Abend, bis nur ein einziges Blatt gelingt, bis es sauber vor ihr liegt: denn auch eine willige Linke mag nie so rasch und fügsam ihre Dienste tun, wie es die Rechte gewohnt war. Die großen Bücher des Herrn Abtes aber zählen wohl an die hundert Blätter und noch darüber.

Doch wie die Monde schwinden und wachsen, so schwindet langsam auch Stein um Stein von dem Bücherberg zur Linken der Schreiberin, und zu ihrer Rechten steigt schon sanft der neue Hügel an. Die sechs Bände mit den Schriften des heiligen Augustinus von Hippo sind vollendet; morgen kann sie der Herr Abt holen lassen. Und nach langen Tagen sieht die hochgestiegene Sonne wieder einmal die Augen unter dem schwarzen Schleier, wie sie für eine kleine Weile im Blau des Himmels ruhen. Vom Grün der erwachenden Erde freilich mögen sie wohl we- nig wissen, denn die Zellenfenster der weltabgeschiedenen Nonnen liegen gar hoch in der Mauer.

Ober die weiße Wand geht ein flüchtiger Schauen, und die schmale Tür ist aufgegangen: die Schwester Hilde- gundis, die das Amt an der Pforte tut, bringt einen Brief. Mit leisem Verwundern kehren die Augen unter dem Schleier aus dem Himmelsblau zurück: die gottgeweihten Jungfrauen dürfen keinen Brief empfangen, es sei denn, der Herr Abt habe ihn zuvor gelesen und es verstattet. Es ist ein großer Brief, elfenbeinfarben, und mit einem feinen Wappen versiegelt — der kommt aus der weiten Welt, die ferne hinter den Mauern und Hügeln liegt. Die weiße Hand zögert ein wenig. Aber die Schwester Hildegundis nickt; der Herr Abt selber schickt den Brief zu ihr herüber, und er sei von dem edlen Fräulein Herluka, das die Jungfrau Diemud damals, vor zwei Jahren, in der Buchmalerei unterwiesen hat. Das Blatt ist elfen- beinfarben und zierlich gefaltet, und es trägt gleichfalls oben in der Ecke das gräfliche Wappen; aber kein Duftwölklein steigt aus ihm auf. Was will das vornehme Fräulein Herluka draußen in der großen Welt der ein- fältigen Nonne zu wissen tun?

Als die sinkende Sonne eben den letzten Blick in das Zellenfenster tut, sieht sie die schmalen Wangen unter dem Schleier vor hoher Freude brennend, und auf dem elfenbeinfarbenen Briefblatt blinken ein paar helle Tropfen. Aber sie weiß noch nicht, was nun die einsame Leserin dort weiß: daß nämlich auch der jungen Nichte der Frau Pfalzgräfin Adelheid seitdem die Frau Minne mit dem Dornenkranz und dem durchbohrten Herzen begegnet ist, und daß sie am nächsten heiligen Karfreitag ihr ebenholzgetäfeltes Gemach mit einer kahlen Zelle und das seidenrauschende Gewand des Edelfräuleins mit dem härenen einer gottgeweihten Jungfrau vertauschen will.

Diemud!

Bist Du es, Herr, der mich ruft — mitten in der Nacht?

Ich bin es, Diemud.

Was ist es, Herr, das Du mir sagen willst?

Es ist viel, Diemud, was ich dich bitten muß.

Was ist dies, Herr, daß Du es von mir bitten magst, da doch alles Meinige Dein ist?

Ich weiß, du hast nicht mehr viel darüber, Diemud.

Ist es mein Leben, Herr?

Es ist nicht dein Leben, Diemud.

Oder ist es das Licht meiner Augen, Herr?

Das Licht deiner Augen will ich nicht von dir erbitten, Diemud.

Es ist doch nicht die süße Gnade Deiner Minne, Herr, die Du mir nehmen mußt?

Die hohe Gnade meiner Minne soll immer bei dir bleiben, Diemud.

Was ist es also, das Du von mir bitten magst, o Herr, da ich darüber doch nichts habe?

Ich will, du sollst in eine Zelle gehen, Diemud.

Bin ich nicht lange schon in einer Zelle, Herr?

Deine Zelle hat noch ein Fenster, Diemud, durch das die Sonne scheint, die da auf- und untergeht wie alle die wandelbaren Dinge der Welt.

Soll ich denn nun mein Fenster verhängen, Herr, also daß die wandelbare Sonne daran vorübergeht?

Deine Zelle hat noch eine Tür, Diemud, durch die die ruhelosen Füße der Welt aus- und eingehen.

Soll ich sie denn verschließen, Herr, also daß alle die unruhigen Füße vor meiner Tür umkehren müssen?

Dies meine ich nicht, Diemud. Ich möchte, du gingest in eine Zelle, die keine Tür mehr hat in die Welt.

Warum kommt nun so lange keine Antwort mehr von der gottgeweihten Jungfrau, die doch nichts hat über die süße Gnade ihrer Minne? —

Diemud!

Ja, Herr?

Ich will dich nicht drängen, Diemud. Wenn dir die Tür in die Welt so lieb ist, so sollst du nicht in die andre Zelle gehen.

Herr — o Herr — meinst Du denn das gemauerte Grab damit, das eine gottgeweihte Jungfrau nimmer lebend verlassen darf, wenn des Bischofs Hand den Stein versiegelt?

Ich meine das Brautgemach der ewigen Minne, Diemud, darin kein Auge mehr die Braut erblicken darf denn der Bräutigam allein.

Noch eine kleine Stille ohne Antwort — und eine scheue Frage, in der doch schon verhaltene Wonne zittert: Und ist es dies, Herr, weil sie sagen. Du seiest ein eifersüchtiger Gott?

Du hast es gesagt, Diemud. Dies ist es.

Aus dem Himmel stürzt ein goldener Stern durch die Nacht; er ist aus seiner Bahn geraten, da ein seliger Jubelruf wider ihn anstürmte: „Ich komme, Herr, — ich komme mit Frohlocken in Deiner Minne Brautgemach!

*

Der Herr Abt vergißt völlig, daß er auf diese Stunde den Baumeister bestellt hat, um mit ihm den Grund für die neue Kapelle zu Ehren von Maria Himmelfahrt auszumessen. Seine Augen finden gar nimmer hinweg über den pergamentenen Hügel, der da vor ihm aufsteigt, und je länger die Hände blättern, umso heller wird der Glanz auf seiner breiten Stirn. Blatt um Blatt ist immer noch reinlicher und ebenmäßiger geschrieben — Buch um Buch immer noch schöner und kostbarer. Ein Stolz kommt in den klugen grauen Augen auf: nein, nun brauchen sie in Tegernsee nimmer um ihre geliehenen Bände zu mahnen — nun wird er sie ihnen schon von selber zurückschicken; denn jetzt ist er ja ein reicher Mann, und schöner wird auch zu Tegernsee kein Buch abgeschrieben als von der gesegneten Linken der Jungfrau Diemud, Nonne im Kloster der Benediktiner zu Wessobrunn.

Der Herr Abt hört es in seiner Versunkenheit gar nicht, daß ein leiser Finger zwei-, dreimal an seine Türe pocht. Er blickt erst auf, als nahe der Schwelle ein schmaler Schatten von der sonnbeglänzten Diele aufsteht, und auA dann kommt kein Verwundern in seine Züge, denn ihn deucht, das sind nur seine Gedanken gewesen, die die Gestalt dort im schwarzen Gewand und Schleier nun körperlich hierher gerufen haben. Zwei schwere Bände trägt die gesegnete Linke wider die Brust gestützt, und als der Herr Abt sich rasch erhebt, um ihr die Last abzunehmen, bergen sich die blassen Finger sogleich züchtig im Gehäuse der Ärmel.

Als aber der schmale Schatten nun zu sprechen beginnt, da bleibt der Herr Abt immer noch stehen. Warum dünkt ihn denn die demütige Gestalt der Nonne heute so übergroß, daß es ihm nicht angemessen erscheint, sich neben ihr in den tiefen Stuhl zu setzen? Mit leiser und zager Stimme bittet sie — was wandelt den Klugen und Erfahrenen also an, daß ihm ist, er empfange die Befehle einer Königin?

Was will denn die gottgeweihte Jungfrau überhaupt von ihrem ehrwürdigen Vater?

Sie bittet ihn gar einfältig, wie wohl ein Kind seine Mutter bitten mag, sie lebendigen Leibes in eine Zelle einzuschließen, die ohne Tür ist, und die der hochwürdigste Herr Bischof mit eigener Hand vermauern möge, damit sie nie mehr daraus hervorgehen kann. Anderes bittet sie nicht.

Aber warum wird nun des Herrn Abtes gelbliches Gesicht mit einem Male noch um einen Schatten gelber, und warum schwillt die bläuliche Ader an seiner Schläfe so an? Gewiß nur, weil der Herr Abt ganz und gar nicht einverstanden ist mit dem, was diese törichte Jungfrau da bittet. Mit einem festen Ruck, als drücke er wo ein großes Siegel auf, preßt er seine flache Hand gegen den Deckel der beiden Bücher, die er soeben auf den Schreibtisch niedergelegt hat, so daß die polierte Holzplatte leise darunter zittert. Nein — er will es nicht, und dies ist heute sein letztes Wort. Die fromme Jungfrau möge im Gehorsam weiter in ihrer Zelle bleiben und nach Kräften für des Klosters Mehrung schaffen, was er als Stellvertreter Gottes ihr auftrage. Er wolle noch ein Übriges tun und ihr Zellenfenster ein Stück höher legen lassen, damit das Licht der wandelbaren Sonne sie nimmer verwirre, und das Essen solle ihr künftighin vor die Zellentür gestellt werden und sie selbst des Erscheinens im Refektorium entbunden sein. Darüber hinaus aber möge sie nun nichts mehr von ihm erbitten, sondern als demütige Nonne sich der höheren Einsicht ihres geistlichen Vaters beugen. Damit geht er heftigen Schrittes zum Fenster hinüber und blickt in den Abend hinaus.

Als die schwere Tür sich längst hinter dem schmalen Schatten geschlossen hat, steht der Herr Abt immer noch, den Rücken gegen den Saal gewendet, vor dem großen Fenster, durch das die Frau Welt hereinblickt mit ihren hundert Wegen, Tälern und Hügeln. Und es will ihn fast ein Unwillen über sich selber ankommen, da er sich bei dem sonderlichen Gedanken ertappt, daß auch der Klüg- ste immer nur einen einzigen von all diesen hundert Wegen gehen könne —

Als er sich endlich umwendet, ist er allein. Die Sonne ist schon eine ganze Weile untergegangen — wie mag es nur sein, daß dort, nahe der Tür, immer noch ein heller Fleck geblieben ist von ihrem Widerschein? Der Herr Abt überhört an diesem Abend auch völlig die Glocke, die den Konvent zu Tische ruft, und die Brüder drunten im Refektorium hören ihn noch lange mit schweren Schritten auf- und niedergehen. Der Schäfer aber, der drunten auf der Wiese, gen die Fischteiche zu, bei seinen Schafen wacht, sieht droben im Kloster in einer einzigen Zelle die ganze Nacht hindurch das Licht brennen.

Kaum daß es Tag ist, läßt der Herr Abt den Baumei- ster rufen. Der kommt mit Schnur und Winkelmaß, — der ehrwürdige Herr wird wollen den Grund zu Marien Himmelfahrt ausmessen, wie er es gestern schon im Sinn gehabt. Aber es ist auch heute noch nichts damit; vielmehr befiehlt der Herr Abt, es solle alsbald eine Zelle für eine Nonne errichtet werden, die die Einschließung begehrt habe. Der Baumelster möge am Münster einen Platz dafür auswählen; doch wolle er mit Sorgfalt darauf achten, daß der Grund trocken und die Zelle nicht zu eng werde. Auch solle sie außer dem kleinen Fenster in der Außenwand noch ein zweites, und zwar ins Innere der Kirche haben. Dies aber müsse so gelegt werden, daß des heiligen Tabernakellichtes roter Schein recht tief, bis auf den Grund der Zelle falle.

*

Der hochwürdigste Herr Bischof im goldgewirkten Mantel und mit dem Hirtenstab von Silber und Elfenbein ist schon längst in feierlichem Zuge mit dem Herrn Abt und seinen Mönchen in den Konvent hinübergegan- gen, und auch das Volk verläuft sich allmählich. Die heilige Handlung hat lange gedauert, und viele der frommen Zuschauer, die zum Teil von weit hergekommen sind, haben noch nichts im Magen; nun fängt er in der Morgenkühle langsam an, über die Tränen der Rührung und Andacht zu knurren — und das ist menschlich. Still sinnend die einen, mit lauten Erwägungen die ändern, kehren sie in ihre Häuser und Hütten zurück.

Nur zwei Männer sind noch zurückgeblieben: Maurer, die Mörtel, Sand und Handwerkszeug vollends verräumen und den Platz um das Münster wieder ebnen und säubern sollen; denn die Menge hat den schönen Rasen gar arg zertreten. Sie reden nichts miteinander, die Beiden. Langsam tut der Alte, und nach jedem Bücken muß er mit den Augen wieder hinauf zu der schmalen Fensterluke, die auch für einen ausgestreckten Arm nur schwer zu erreichen ist. Daß sie es gerade nach Norden haben legen müssen, das arme Guckloch, wo jeder Tag immer das gleiche öde Gesicht hat — und war doch in der Südwand auch ein Platz dafür gewesen; da hätte doch die wandelnde Sonne zuweilen noch einen Strahl hineingeschickt zu der frommen Seele! — Sein Pickel stößt wider das Mauerwerk. Aber der Grund ist gut, das muß man sagen, — der ist tief ausgehoben und ausgemauert, wie für ein festes Haus; das hat sich der Baumeister angelegen sein lassen, und der Herr Abt selber ist mehr denn einmal gekommen, um nach dem Rechten zu sehen. Da kann das Grundwasser nicht so leicht heraufsickern, wie sonst überall hier oben auf dem lehmigen Grund. Wird ohnedies bald ihre Gliederkrankheit haben, die Arme da drinnen! Aber freilich, sie hats ja selber so wollen, das ist wahr, und der hochwürdigste Herr Bischof hat dies an die dreimal versichert; denn solches tut man keinem lebendigen Menschen an, so er es nicht selber begehrt. Rätselhaft ist dies und ganz unverständlich für einen gemeinen Sinn, wie Gott einer Seelen einen solchen Wunsch mag eingeben —

Da spuckt der Jüngere mit einem Male in die rissigen Hände und stößt sein Gespat in den Boden, daß es klirrt. Da mag nun einer denken, wie er will, alter Thomas, knurrt er, aber ich sag, es ist kein Lieb und kein Erbarmen nicht dabei, wenn man ein junges Frauensmensch bei lebendigem Leib läßt also elendiglich in ein Zellen einmauern. Die jungen Weiberleut haben oft gar sonderliche Ding im Kopf — aber mir ist, da müßten die geistlichen Herren die Klügeren sein und solches nicht verstatten. Wird sie bald gereuen, die fromme Jungfrau — wenn sie nicht jetzt schon ihre ersten Zähren weint. Freilich — das hilft ihr nun nimmer —

Immer noch kopfschüttelnd, nimmt er sein Gerät auf; er ist fertig. Der Alte erwidert nichts; auch seine Arbeit ist beendet, und sie können nun heimgehen, eine heiße Suppe essen. Was zögern sie denn noch immer herum unter dem schmalen Fenster, als müßten sie auf etwas war- ten? Ist doch alles in Ordnung, so wie es der Baumeister angeschafft hat.

Bis sie es dann hören: der Alte zuerst, und dann auch der Andere. Wie leises Summen aus einem Bienenstock im Beginn, honigschwer und golden. Doch bald wird es stärker, wie wenn Wind in das Gebläse einer Orgel kommt: — vox coelestis [Stimme aus dem Himmel]. Und die Beiden lauschen und warten darauf, daß die Stimme herabsteige und daß sie sie am Saum der Worte fassen können. Aber die Stimme steigt nicht hernieder; einsam und silbern schwebt sie in der Höhe, ohne Worte — nur die Kinder singen so und die Vögel, die der Sprache der Welt unkundig sind.

Als sie so hoch emporgesdiwebt ist, daß die Lauscher herunten nichts mehr vernehmen, gehen sie endlich still vom Platz. Der alte Thomas vergißt, noch einmal zu der schmalen Fensterluke hinaufzublicken; der Jüngere aber kehrt nach ein paar Schritten nochmal um, als habe er etwas vergessen. Am Fuß der Zellenwand liegen noch ein paar kleine Mauerbrocken auf der Erde; davon hebt er einen auf und steckt ihn verstohlen in die Tasche. Wozu, das weiß er selber nicht.

*

Draußen beim Hunnenstein, auf das Moor zu, stehen die Hütten der armen Leute. Die Korbflechter wohnen dort, die um ein paar Groschen den ganzen Tag mit krummem Rücken über ihren Weidenruten sitzen, und auch etliche Taglöhner, die in der trockenen Jahreszeit die neue Straße nach Landsberg hinüberziehen helfen. Oder sie schaffen drüben im Kloster bei den Mönchen, die ja immer am Bauen sind; da haben sie doch tagsüber ein warmes Essen und bringen am Abend wohl noch einen Ranken Brot oder einen Klosterkäs für Weib und Kinder mit heim.

Die letzte und die armseligste von diesen Hütten ist dem Mooskaspar seine. Mit Moos und Lehm sind die Löcher im Dach notdürftig verstopft, und die lottrigen Fensterläden klappern und schlagen bei jedem Wind. Den Mooskaspar schiert das wenig. Wenn es draußen regnet oder weht, hockt er tagelang hinter dem Herd, döst vor sich hin oder flucht auch gar lästerlich über Gott und die Welt. Sobald es aber trocken ist, schleicht er sich oft schon früh aus der Hütte fort und kommt dann bis zum Abend, manchmal auch tagelang nimmer heim. Wohin er aber geht, und wo er das Fleisch und den Branntwein her hat, den er von diesen Ausflügen wohl mit nach Haus bringt, das mag ihn keiner fragen — nicht einmal die Kathrin, sein Weib. Die weiß auch, daß er nach solchen Tagen zuweilen sogar einen runden Batzen Geld in der Tasche hat, wenn sie selber auch nichts davon zu sehen und noch weniger zu spüren bekommt; denn der Mooskaspar fragt wenig danach, wovon sein Weib und das hochgeschossene, blasse Dirnlein leben. Die soll nur ihren Flachs spinnen für die Bauern droben auf der Haid oder im Forst drüben — da verdient sie schon, was die Zwei zum Essen brauchen. Sie hat es nicht not, betteln zu gehen, die Kathrin, bei den reichen Protzen — das möcht er ihr nicht geraten haben, — und ganz besonders nicht drinnen im Kloster bei den schwarzen Brüdern, die doch nichts tun als die armen Leute auspressen.

Aber er braucht es ihr nicht zu verbieten, der Mooskaspar — die Kathrin geht schon von selber nicht zum betteln. Sie holt nicht einmal an den Festtagen, wie dies doch alle Nachbarn tun, den Laib Brot im Kloster und den Krug süßen Most, den sie dort zu den heiligen Zeiten für jeden ausschenken. Sie hat noch zwei gesunde Hände, und mit denen kann sie den Tag über schon ein Häuflein spinnen, derweil das Dirnlein die Stube auskehrt und drüben am Wald das Kleinholz für den Herd holt. Nein, die Kathrin geht nicht zum betteln.

Doch heuer ist ein schlimmes Jahr. Es hat im Sommer drei Monate lang nicht regnen wollen; da ist der Lein und auch das Korn schlecht gewachsen. Die Bauern wollen heuer nicht ums Brot spinnen lassen — das reicht für sie selber nicht aus. Die paar Rocken Flachs können ihre Weiber am Abend selber spinnen. Und das Vieh haben sie müssen bis auf ein paar Stück zum Schlachten führen, weil kein Futter mehr da ist — da verrinnt auch die Milch zu früh. Was soll nun die Kathrin ihrem Dirnlein den langen Tag zum Essen geben? Der Kaspar kümmert sich nicht darum. Muß sie nun doch noch zum Betteln gehen? Ach, es ist schwer.

Aber da kommt das Dirnlein einmal heim und hat in der Schürze ein schönes Wecklein, frisch und goldgelb, das duftet wie ein Klosterbrot. Die Augen der Kathrin werden dunkel und sie sieht dem Kind streng ins Gesicht: Warst du betteln? Des Dirnleins Wangen sind gar rot — aber nicht von der Lügenfarbe, das kennt die Mutter gleich, sondern vor Freude. Und dann plappert es der kleine Mund, was sie erlebt hat: In der Kirche ist sie gewesen, drüben zu Wessobrunn im Münster der lieben Frau, und als sich alle Leute verlaufen haben, ist sie ganz allein noch eine Weile vor dem Altar geblieben. Der rote Schein vom Tabernakellicht kam so freundlich auf sie zu, — da hat sie sich ein Herz genommen und ganz laut gebetet: Ach lieber Herr Christ, du hast doch können aus fünf Stücklein Brot viel hundert machen — so schenk mir doch auch eins davon; wir haben nichts mehr zu essen, die Mutter und ich! Und wie sie dann ist aus der Kirchen treten und die Mauer entlang gegangen, da ist miteins das goldene Brot dicht vor ihr vom Himmel gefallen. Das Dirnlein ist zuerst gar sehr erschrocken darüber und hat sich nach allen Seiten und auch nach oben umgeschaut; aber es war niemand zu sehen. Nur aus der Höhe hat eine feine Stimme gar hell gelacht, und das muß ein Engel gewesen sein.

Die Mutter schüttelt den Kopf und sagt nichts; aber sie schaut dem Dirnlein noch einmal streng ins Gesicht. Nein, es ist keine Lügenfarbe darin —

Aber als das Kind auch am nächsten und am übernächsten Tag ein Laiblein Brot bringt, und den dritten Tag noch einen roten Apfel dazu, da geht sie mit, den Engel suchen. Und es geschieht alles genau so, wie es das Dirnlein erzählt hat. Nur sieht die Mutter, indes das Kind sich nach der Himmelsgabe bückt, wie eine schmale weiße Hand sich rasch von einer hochgelegenen Fensterluke zurückzieht.

An diesem Abend lehrt die Kathrin draußen in der Mooshütte ihr Dirnlein ein neues Gebet zu einer seligen Jungfrau, die mit dem Leib zwar noch im irdischen Ge- fängnis festgehalten ist, deren Herz aber schon lange im Himmel wohnt.

In des Herrn Abtes Studierstube brennt noch immer das Licht. Er sitzt schon seit Stunden über die neuen Bücher geneigt, die heute aus der Zelle am Münster herübergekommen sind, und seine Hand ist tief in dem noch dunklen Bart vergraben. Zwar denken die Brüder jetzt manchmal, wenn er mit ihnen am Tische sitzt, es seien gar viele graue Fäden in diesen Bart gekommen seit einem Jahr, und auch der Falten in seinem gelblichen Gesicht seien es mehr geworden. Aber der Blick der klugen Augen, so meinen sie, sei nun um manches stiller und gütiger, als er es früher war, und man fühle ihn gerne auf sich ruhen.

Langsam schließt der Herr Abt das Buch und blickt eine Weile sinnend vor sich hin. Nein, er hätte sich nicht sorgen brauchen, — damals, als sie mit der scheuen Bitte auf den Lippen vor ihm stund, — er hätte sich nicht sorgen brauchen, daß die leeren Reihen in seinem Bücherspind sich künftig nimmer füllen würden; o, niemals kam ein schöner beschriebenes Pergament aus der Zellen- tür des Himmelsgärtleins zu ihm herüber, als es nun aus der schmalen Fensterluke niederschwebte! Nein, nicht nur im Licht der wandelbaren Sonne reifen die köstlichen Dinge des Lebens —

Der Herr Abt löscht den Leuchter auf seinem Schreibtisch noch immer nicht aus. Auf das große Blatt dort an der Wand fällt sein Blick; es sind lange Mauern, Türme und Hofgevierte darauf gezeichnet: der Plan seines Klosters mit allem, was dazu gehört. Dies ist die neue Pfarrkirche vom heiligen Täufe, — der hochselige Vorgänger Sigibert hat sie errichtet; dies das Münster von unsrer lieben Frau und da die Kapelle des heiligen Michael, darin die Frauen ihren Gottesdienst haben; dort der wuchtige Glockenturm und hier die sauber gezeichneten neuen Kapellen von St. Jakob und Maria Himmelfahrt, die er selber hat bauen dürfen. Aber es kommt kein Stolz darüber in die sinnenden Augen. Vielmehr will es ihn dünken, mitten in diesen sAönen Plan hinein und größer als alle anderen Dinge darauf müsse nun eine arme kleine Zelle eingezeichnet werden, die sich gar schlicht und unscheinbar unsrer lieben Frauen Münster dort zur Seite schmiegt.

Das gleiche aber, was dem Herrn Abt da nächtlicherweile in den Sinn kommt, das meinen die frommen Leute zu Wessobrunn und in den Weilern ringsum schon lange. Des Herrn Waltho neue Kapellen sind gar schön geraten, ganz gewiß, und mit des Herrn Sigibert Täuferkirche kann sich weitum keine andre messen; wo aber im Lande wohnt denn dicht bei der Kirche eine lebendige Selige, so wie bei ihnen, von der man weiß, daß sie für alle Nöten der armen Leute ein Fürsprech ist bei der heiligen Muttergottes und ihrem Sohn? Man trägt nach jeder Ernte, wie sichs gebührt, den Zehnt hinein zu den geistlichen Herren — das ist billig so, und man hat auch die Hilfe bei ihnen in den schlechten Jahren; aber man tut es nie, ohne vorher auch in das Körblein unter der schmalen Fensterluke ein frisches Brot, ein paar Äpfel oder gar einen gelben Eierfladen einzulegen. Es macht auch nichts, wenn die Selige dann alle die guten Sachen wieder weiterschenkt, — es kommt einem doA ein Segen davon und es ist fast, als ob man dem lieben Herrgott selber ein Almosen geschenkt hätte. Und die Mütter versäumen es gewiß nicht, daß sie an den Frauentagen ein geweihtes Licht aufstecken vor der heiligen Jungfrau im Münster; aber sie unterlassen es noch weniger, auf dem Weg dorthin mit der Hand an die Mauer zu rühren, dahinter die Selige wohnt, und sich alsdann mit derselben Hand zu bekreuzigen; und auch die Kindlein, die sie etwa an der Hand führen, tun es ihnen nach und betupfen sich die rosigen Stirnen und Mündlein mit dem Kalk, der von der Zellenwand abbröckelt.

Einmal ist wohl einer gekommen, vom Lech herüber, — ein barfüßiger Mönch, der in den Häusern mit den Leuten betete und um ein Almosen bat, — der hat auch von einer Jungfrau erzählt, die drunten zu Epfach, wo sie jetzt die Brücke über den Fluß schlagen, eine Klause haben und ein gar heilig Leben führen soll. Es ist dann zu Wessobrunn eine Weile sogar viel Redens gewesen von dieser Epfacher Jungfrau Herluka, und der Bruder Pförtner vom Kloster hat in einer redseligen Stunde erzählt — (er hätte ja wohl darüber schweigen müssen), — selbige sei von hoher Abkunft, und es seien schon des öfteren Briefe von ihr an die eingeschlossene Nonne Diemud gelangt. Aber dann ist das Gerede wieder in Vergessenheit gekommen; auch mögen die frommen Leute der Meinung gewesen sein, wer selber ein Licht im Hause hat, der habe nicht Not, nach dem des Nachbarn auszuschauen — und damit haben sie vielleicht so Unrecht nicht. Indes konnten sie ja auch nicht ahnen, daß die Verwandlung eines leichten weltlichen Rüchleins in eine glutschwere Weihrauchwolke einst in einer kahlen Zelle des Himmelsgärtleins zu Wessobrunn ihren Anfang nahm.

Diemud!

Ja, Herr?

Bist du bereit, Diemud?

Du weißt, daß ich immer für Dich bereit bin, Herr.

„Nun will ich selber zu dir kommen, Diemud.

Weiß denn die gottgeweihte Jungfrau in ihrer Mauer nun keine bessere Antwort mehr als dies wirre, abgerissene Stammeln?

„Du, Herr — Du — in diese arme Zelle? — Du — so groß — o kleine arme Zelle —

Ja, Diemud — in deine kleine arme Zelle komme ich nun. Aber ich muß ihre engen Wände zuerst zerbrechen, auf daß Raum in ihr sei für meine große Herrlichkeit.

Es kommt keine Antwort mehr. Nur das immerwache Tabernakellicht im Münster unsrer lieben Frau hört noch ein leises, seliges Schluchzen — dann ist alles wieder ganz still.

Am Himmel fährt abermals ein goldner Stern durch die Nacht. Aber nicht, weil ihn ein stürmischer Jubellaut aus seiner Bahn stieß: es war der lautlose Ruf der Frau Minne mit dem durchbohrten Herzen selber, der ihn zum Zeugen lud für eine ewige Vermählung.

Wenn der Herr Abt alles recht bedenkt, so gibt es für den Leib der gottgeweihten Jungfrau Diemud keine würdigere Ruhestatt als neben dem Sarg des seligen Thiento, den die Hunnen damals, in der bösen Zeit, draußen auf dem Kreuzberg erschlugen. Läßt doch die weise Mutter Kirche in ihren Gebeten die Märtyrer und die Jungfrauen allezeit nebeneinander gehen — warum sollte er, ihr geringster Sohn, also zögern, ihnen nun auch seinerseits den Platz nebeneinander zu geben? Dann findet sie auch der Bischof, so er wieder nach Wessobrunn kommt und einmal an ihren Gräbern beten will, gleich nahe beisammen, — und dabei mag ihm vielleicht doch durch den Sinn gehen, daß nicht in jedem Kloster zwei Selige auf einmal ruhen.

Ganz tief versteckt hinter all diesen guten und einleuchtenden Gründen wohnt aber zuletzt noch ein gar heiliger und gerechter Wunsch, den der Herr Abt jedoch still für sich behält. Wenn nun drüben im Münster die beiden Särge so recht geschwisterlich nebeneinander stehen, keiner größer und keiner kleiner als der andre, so wird es am Ende doch wohl geschehen, daß auch das Volk sie wieder gleichermaßen ehren mag: den großen seligen Thiento und die kleine selige Diemud. Denn in den letzten Jahren — das weiß der Herr Abt nur zu gut — hat es manchmal sehr den Anschein gehabt, als ob der schmale Schatten der Jungfrau hinter der Mauer die breite Glorie des todesmutigen Mönchs über Gebühr verdunkeln wolle. Solches aber zu verhüten, ist seine gerechte Pflicht.

Aber auch dies ist die Pflicht des Vaters, der neben den Söhnen noch zarte Töchter hegt, der liebsten von ihnen nun ein Denkmal zu setzen, damit ihr Bild für alle kommenden Zeiten weiterlebe, wenn die Herzen, in denen es heute noch lebendig glüht, schon lange erloschen sind. Und es kommen die Künstler und legen ihre Entwürfe vor: die selige Diemud, vor dem Gekreuzigten betend; die selige Diemud, Rosen streuend, die selige Diemud, in ihrer Zelle auf Stroh liegend; die selige Diemud, durch das schmale Fenster Gaben für die Armen reichend. Mit prüfendem Blick betrachtet der Herr Abt die Blätter; aber immer wieder schüttelt er das Haupt und legt eines ums andre stumm zur Seite. Und lange sinnt er vor sich hin. Wie war sie denn gewesen, die Selige, da sie noch hier bei ihm ein- und ausging, mit Farben und bemaltem Pergament zuerst, und dann mit der köstlichen Last der Bücher unter dem Arm? Er hat sie doch von allen am besten gekannt, und er muß es doch nun auch am besten herausfinden, welches Bild den Zügen der Verewigten am nächsten kommt.

Aber der Herr Abt findet es nicht, solange er auch darüber nachsinnen mag. Er sieht nur immer einen schmalen Streifen Licht auf dem dunklen Fußboden, nahe der Tür, auch wenn die Sonne schon lange untergegangen ist.

Und dann weiß er es plötzlich, und sein alt gewordenes Gesicht wird mit einem Male sehr still: die irdischen Züge der Jungfrau Diemud hat in Wahrheit niemand sehen können, denn sie ist immer schon in der Zelle gewesen — auch lange bevor des Bischofs Hand sie hinter der Mauer verschloß.

Und langsam, mechanisch fast, zieht die welke Hand das letzte Blatt unter den vielen hervor. Es ist darauf mit dunklem Stift das Bild einer Nonne gezeichnet, deren Augen und Antlitz nicht erkennbar sind, so tief schattet der Schleier über die schmalen Wangen. Sie hält das Haupt über ein großes Buch geneigt, und ihre Hand führt einen Griffel.

Da steht der Herr Abt von seinem Schreibtisch auf und läßt den Künstler rufen, der dieses Blatt entworfen hat.

*

Es muß am Ende noch von einer seltsamen Begebenheit erzählt werden, die sich zu dieser Zeit zugetragen Und durch die des Herrn Abtes Entschluß in Hinsicht auf das Denkmal für die selige Nonne Diemud beinahe ins Wanken geraten wäre. Eines Tages nämlich kam ein fremder Maler in das Dorf, der hängte hinten in der Vorhalle des Münsters eine große Votivtafel auf zu Ehren unsrer lieben Frau, und auf dieser Tafel war zu sehen, wie ein Engel Arm und Hand eines Mannes als Gnadengeschenk vom Thron der heiligen Jungfrau zur Erde hinabträgt. Den kopfschüttelnden und neugierigen Zuschauern aber erzählte er, daß ihm vor vielen Jahren einmal sein rechter Arm über Nacht lahm geworden und er nimmer habe malen können. Auf die Fürbitte der heiligen Jungfrau sei dies Übel jedoch ebenso über Nacht wieder von ihm genommen worden, und eine unerklärliche Stimme in seinem Innern habe ihn seitdem unablässig getrieben, hier oben im Heiligtum zu Wessobrunn eine Danktafel zu opfern.

In den gar lieblichen Zügen dieses Engels aber wollten die frommen Leute nun plötzlich das Antlitz der heimgegangenen Nonne Diemud erkennen, wie sie leibte und lebte, und sie ruhten nicht, bis auch der Herr Abt sich das Bild besehen; denn nur dieser fremde Maler, so meinten sie, könne der Richtige sein, das Denkmal für ihre Selige zu schaffen.

Doch der Herr Abt — und er war der Einzige, der letztlich darüber zu befinden hatte — entschied anders. Es möge wohl sein, daß der eine oder andere der frommen Gläubigen die selige Jungfrau Diemud mit den gleichen Augen wie dieser fremde Maler erblickt habe, und er wolle nicht bestreiten, daß die Züge des Engels auf dem Bilde auf eine seltsame "Weise dem Mädchenantlitz ähnlich seien, das einst vor langen Jahren auf seiner Schwelle erschien, um den Schleier der gottgeweihten Jungfrauen von ihm zu erbitten. Allein der heiligen Kirche, so meinte er, die doch auch die ewige Mutter heiße, könne es nicht so sehr darauf ankommen, die zeitlichen Züge ihrer auserwählten Kinder aufzubewahren, als vielmehr dafür Sorge zu tragen, daß deren ewiges Antlitz für die kommenden Geschlechter nicht verloren gehe. Das ewige Antlitz der seligen Nonne Diemud aber sei gerade ihre irdische Verborgenheit unter dem Schleier, und die gehorsame Hand mit dem Griffel, damit sie ihres Erdendaseins stilles Werk geübt.

Dies war das letzte Wort des Herrn Abtes Waltho in dieser Sache, und also geschah es.

Hermine Ledermann: Der Gnadenhügel. Wessobrunner Erzählungen, 3. Aufl. EOS Druckerei St. Ottilien 1991

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Autor: Joachim Schäfer - zuletzt aktualisiert am 12.11.2020

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