Ökumenisches Heiligenlexikon

Mit leeren Händen

Die Botschaft der Thérèse von Lisieux

Einleitung

Vor hundert Jahren klopfte ein junges Mädchen an die Pforte des Karmel von Lisieux. Es war fünfzehn Jahre alt. Es trat ein - und verließ das Kloster nie mehr. Wozu? Wie würde es sich dort drinnen entwickeln können? Wie konnte es durchhalten?

Sein Leben spielte sich innerhalb einiger Quadratmeter ab; aber dennoch wurde es zur Patronin der Weltmission. Es hat nichts Außergewöhnliches vollbracht; doch seine Autobiographie wurde ein Bestseller. Es wollte im verborgenen leben; aber zur Zeit wird es von Millionen von Christen geliebt und angerufen. Sein Einfluß auf Theologie, Mission und Spiritualität sind groß.

Und doch mißt die Zeitspanne zwischen der Geburt von Thérèse Martin (Alençon, am 2. Jänner 1873) bis zu ihrem Tod (Karmel von Lisieux, am 30. September 1897) nur vierundzwanzig Jahre und zweihunderteinundsiebzig Tage. Es ist, als ob sie schon in der Wiege heilig gewesen wäre: als ob die wärmenden Sonnenstrahlen bloß in vollem Frieden dieses Leben zum Keimen hätten bringen müssen …

Dem ist jedoch nicht so! Thérèse musste reif werden - durch viel menschliches Leid und in völliger Verarmung. Nur auf dem Hintergrund ihrer persönlichen Geschichte, mit ihren Krisen, ihren Höhen und Tiefen, erhalten ihre so genialen religiösen Gedankengänge ihre volle Bedeutung. Die tiefe Einfachheit, in die sie alles zu fassen wußte, ist die Frucht einer glühenden Liebe, die mit Phantasie und Kreativität durch tausend Schicksalsschläge hindurch das scheinbar Unvereinbare zustande gebracht hat: ein winzig kleines Geschöpf öffnet sich bedingungslos dem unendlichen Gott …

Diese Tochter eines wohlhabenden Uhrmachers und einer geschickten Spitzenklöpplerin war dazu ausersehen, ganz arm zu werden … Ihre Liebe zu Gott lehrte sie, diese Armut von Ihm anzunehmen. Ihre Tatkraft entsprang der Kraft, die die Gnade ihr schenkte …

Seit der Veröffentlichung ihrer Autobiographie im Jahr 1898 fand ihre prophetische Mission bei zahllosen Christen enormen Anklang. Pius XI., der sie 1925 heiligsprach, nannte Thérèse ein Wort Gottes. Inzwischen hat sich ihr Einfluß immer mehr ausgedehnt, hat sich wie der Sauerteig mit dem übrigen Teig vermischt. Und doch zählt Thérèse auch weiterhin zu den größten Leitbildern der zeitgenössischen Spiritualität. Sie fasziniert uns, wenn sie von diesem herrlichen Abenteuer spricht, nach dem jeder Mensch sich sehnt: der Liebe. Mit pädagogischem Feingefühl und wunderbar ausgewählten Bildern versteht sie es, die wesentlichen Linien des christlichen Lebens in unseren Alltag und unsere zwischenmenschlichen Beziehungen hineinzuverweben. Thérèse hebt hervor, dass es möglich ist, in dem je eigenen Milieu ein zutiefst christliches Leben zu führen, und zwar mit den ganz gewöhnlichen, zur Verfügung stehenden Mitteln.

Vor kurzem sagte Dom Helder Camara: Die Heiligkeit, das ist eigentlich der Herr. Er ist es, der uns einlädt, an Seiner Heiligkeit teilzuhaben. Aber die Teilhabe an dieser Heiligkeit bedeutet keinen Ehrentitel oder ein außergewöhnliches Privileg, und noch weniger eine Gnade, die wir Gott erweisen. Nein, sie ist eine Verpflichtung für uns alle, und zwar von dem Augenblick an, wo uns in der Taufe die heiligmachende Gnade geschenkt wurde, diese Gnade, die uns heilig macht.

Gott will uns befreien. Thérèse hat sehr genau verstanden, daß der Gott der Liebe (1 Joh 4,7) auch der Gott der Hoffnung ist (Röm 15, 13). Sie wurde sich dessen noch besser bewußt, nachdem ihr ursprüngliches Ideal in die Brüche ging, das Ideal des Selbermachen - Müssens. Ihre Erfahrung ist eine Allerweltserfahrung. Jeder will sein Leben meistern und selbst in die Hand nehmen, und viele möchten aufrichtig und treu den Herrn und ihren Nächsten lieben. Aber man stößt so schnell an seine Grenzen. Jedes hochgesteckte Ideal konfrontiert einen sehr schnell mit dem eigenen Unvermögen.

Thérèse lehrt uns, dass wir uns keinesfalls mit unserer Ohnmacht abfinden, sondern auf einen Anderen zugehen sollen, auf Ihn, der viel größer ist und der bereit ist, uns zu helfen. Denn das ist es, was Gott will: sich Seinem Geschöpf zu schenken. Der Gute Hirt selbst geht in die Berge auf die Suche nach dem verlorenen Schaf (Mt 18,12). Wer Gott sucht, wird früher oder später entdecken, dass er Gott nicht aus eigenem erreichen kann, sondern dass er um Ihn voll Ehrfurcht bitten muss, wie um ein Geschenk.

Thérèse ist die Heilige der Hoffnung. Sie zeigt uns, mit welch befreiender Kraft Gott von uns Besitz ergreifen könnte, mit welch befreiender Kraft Er durch uns wirken könnte. Denn Thérèse wurde zu einer Revolutionärin der Liebe, indem sie in ihrer unmittelbaren Umgebung damit begann.

Die jüdische Philosophin, die selige Edith Stein, schrieb einer Freundin, die sich an dem Stil Thérèses stieß: Es überrascht mich, was Sie mir da über die Kleine Thérèse schreiben. Bisher ist es mir nicht einmal in den Sinn gekommen, dass man sie in dieser Weise sehen könnte. Der einzige Eindruck, den ich von ihr hatte, war, dass ich hier vor mir ein Menschenleben hatte, das einzig und allein, bis zum Ende, völlig von der Gottesliebe durchdrungen war. Ich kenne nichts Größeres, und ich möchte einen Bruchteil davon, soviel wie möglich, in mein eigenes Leben und in das Leben meiner Umgebung übertragen.

Von diesem einzigartigen Abenteuer der Thérèse Martin mit Gott wollen wir hier nun sprechen. Vor fünfzehn Jahren erschien die erste Ausgabe dieses Buches unter dem Titel Les Mains vides und griff in anderer Form die wesentlichen Ideen unserer umfangreicheren Studie Dynamique de la Confiance (Dynamik des Vertrauens) (Cerf, Kollektion Cogitatio fidei, Nr. 39) wieder auf. Das Werk wurde gut aufgenommen, und außer einer holländischen und einer französischen Ausgabe erschien es auch auf Englisch, Spanisch, Portugiesisch, Japanisch, Italienisch, Indonesisch, Kroatisch, Koreanisch und Schwedisch.

Innerhalb dieser fünfzehn Jahre erschien nun die kritische Gesamtausgabe der Werke Thérèses, die uns eine Fülle neuer Informationen brachte. Auch andere Veröffentlichungen über Thérèse fanden in der Meinung der Öffentlichkeit ihren Niederschlag. Die gegenwärtige Ausgabe wurde vollkommen neu verfaßt. Wir wollten die neuen Informationen mit hinein verarbeiten; auch sind wir in manchen unserer Anschauungen gereift; wir haben Thérèses Psychologie besser studiert, den Einfluß ihres familiären Umfelds, die Entwicklung ihres Glaubens, ihre Beziehungen zu ihren Mitmenschen, ihr Gebet.

Und wir wagen zu hoffen, dass der eine oder andere Gottsucher in diesem Werk ein wenig Licht für seinen Weg findet und dass er, wie Thérèse, die Freude des Liebens und des Geliebtwerdens erfährt.

So werden wir, ohne einander zu kennen, zu Freunden werden.

Abkürzungen und Zitate

  • A, B, C - bezieht sich auf die Manuskripte A, B, C aus: Thérèse von Lisieux, Selbstbiographie, Johannes Verlag
  • S - Selbstbiographie, Johannes Verlag.
  • G - Gedichte
  • IGL - Thérèse Martin, Ich gehe ins Leben, Johannes Verlag.
  • MST - Céline Martin, Meine Schwester Thérèse, Verlag Herold.
  • Briefe der heiligen Thérèse von Lisieux, Johannes Verlag.
  • Glaubensverkündigung für Erwachsene, Deutsche Ausgabe des Holländischen Katechismus, Verlag Herder.
  • Johannes vom Kreuz, Geistlicher Gesang, Theatiner Verlag München, 1925, (Übers. P. Aloysius ab immaculata Conceptione).
  • Ernst Gutting, Nur die Liebe zählt, Johannes Verlag.

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zuletzt aktualisiert am 12.09.2016
korrekt zitieren:
Mit leeren Händen - Die Botschaft der Thérèse von Lisieux:
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