Spiritualität der Heiligen - Eine Quellensammlung
zusammengestellt von Abt em. Dr. Emmeram Kränkl OSB,
Benediktinerabtei Schäftlarn
Berufungen in der Kirche
Das Wort Berufung
bringt zum Ausdruck, dass eine Beauftragung zu einem Amt oder einer
Aufgabe in der Kirche nicht vom (berufenen) Menschen, sondern von
Gott bzw. von Jesus Christus oder dem Heiligen Geist ausgeht. Sache des
Menschen ist es, diesem Ruf zu folgen.
1. Allgemeine Berufung
2. Besondere Berufung
3. Prophetische Berufung
1. Allgemeine Berufung
Allgemeine
Berufung
bringt zum Ausdruck, dass schon das Christsein an sich
einem Ruf Gottes entspringt:
Bei seiner Predigt
über die Gemeinde als Leib Christi (1. Korintherbrief 12) spricht
Johannes Tauler († 1361) von der Berufung des gewöhnlichen
Christen:
Wir gewöhnlichen
Christen sollen gut prüfen, was unsere Aufgabe ist, zu der uns
der Herr gerufen und eingeladen hat, und welches die Gnade ist, die
der Herr uns zugeteilt hat. Denn jede noch so geringe Fertigkeit oder
Arbeit ist Gnade; derselbe Geist wirkt sie zum Nutzen und zum Wohl
der Menschen. Beginnen wir mit dem Geringsten: Einer kann spinnen,
ein anderer Schuhe machen, wieder andere verstehen sich gut auf
mancherlei äußere Dinge und sind darin tätig, während
ein anderer das nicht kann. Alles das sind Gnaden, die der Geist
Gottes wirkt. Wisset, wäre ich nicht Priester und lebte ich
nicht in einem Orden, ich erachtete es für etwas Großes,
Schuhe machen zu können; die wollte ich lieber machen als alles
andere, und ich wollte gerne mein Brot mit meinen Händen
verdienen. Meine Lieben! Fuß und Hand sollen nicht Auge sein
wollen. Jeder soll den Dienst tun, zu dem ihn Gott bestellt hat, wie
schlicht er auch sein mag; ein anderer könnte ihn vielleicht
nicht tun. So soll auch jede unserer Schwestern die ihr zugewiesene
Tätigkeit ausüben. Die einen können gut singen, die
sollen ihre Psalmen singen. All dies kommt von Gottes Geist. Sankt
Augustinus sprach: Gott ist ein einförmiges, göttliches,
einfaches Wesen und wirkt doch alle Vielfalt und alles in allen
Dingen, einer in allem, alles in einem. Es gibt keine noch so geringe
Arbeit, keine noch so verachtete Fertigkeit, die nicht ganz von Gott
kommt und ein Erweis seiner besonderen Gnade ist. Und jeder soll für
seinen Nächsten das tun, was dieser nicht ebenso gut tun kann,
und jeder soll aus Liebe ihm Gnade um Gnade erweisen. Und seid euch
bewusst: Wer nicht etwas für seinen Nächsten tut, ausgibt
und wirkt, der muss darüber Gott Rede und Antwort stehen; so
sagt ja das Evangelium, dass jeder Rechenschaft über seine
Verwaltung geben muss (vgl. Lukasevangelium 16, 2). Was jeder von Gott empfangen
hat, das soll und muss er einem anderen weitergeben, so gut er nur
kann und wie es ihm Gott gegeben hat …
Der Mensch soll gute,
nützliche Arbeit verrichten, wie sie ihm zufällt; die Sorge
aber soll er Gott anheimstellen und seine Arbeit sehr behutsam und im
Stillen tun. Er soll bei sich selbst bleiben, Gott in sich
hineinziehen und oft in sich hineinschauen mit einem gesammelten
Gemüt, ganz innerlich und andächtig; immer soll er auf sich
selbst achten und auf das, was ihn bei seiner Arbeit jagt und
antreibt. Auch hat der Mensch innerlich darauf zu achten, wann ihn
der Geist Gottes zum Ruhen oder zum Wirken treibt. Er folge jedem
Antrieb und handle gemäß der Weisung des Heiligen Geistes:
Jetzt ruhen, jetzt wirken! So soll er seine Arbeit voll guten Willens
und in Frieden tun.
[Die Predigten Taulers Nr. 42: über: Es gibt verschiedene
Dienst, aber nur denselben Geist
]
Giuseppe „Pino” Puglisi (†
1993): Jeder von uns verspürt in sich eine Neigung,
ein Charisma, einen [inneren] Entwurf, der jeden Menschen einzigartig
und unwiederholbar macht. Dieser Ruf, diese Berufung ist das Zeichen
des Hl. Geistes in uns. Nur das Hören auf diese Stimme kann
unserem Leben Sinn geben.
2. Besondere Berufung
Jede menschliche Gemeinschaft braucht zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben auch spezielle Berufungen:
Nach Papst Gregor „dem Großen” († 604)
beraubt, wer die Berufung zu
einem geistlichen Leitungsamt hat, dieser Berufung aber nicht folgt,
sich selbst und andere großer Chancen:
Es
gibt manche, die über herausragende Gaben für ein sittlich
einwandfreies Leben verfügen und die sich durch bedeutende
Anlagen zur Leitung anderer auszeichnen, sie sind keusch und bemühen
sich um Reinheit, sie sind stark durch ihre Enthaltsamkeit, gestärkt
durch die Speise der Lehre, demütig in geduldiger Langmut,
verfügen über eine starke Autorität, sind voll Mitleid
und Güte und zugleich voll strenger Gerechtigkeit. Wenn diese
nun sich weigern, dem an sie ergangenen Ruf zum Hirtenamt zu folgen,
dann werden sie meistens der Gaben ledig, die sie nicht nur für
sich, sondern auch für andere empfangen haben. Da sie nur an
ihren eigenen Vorteil und nicht an den für andere denken,
berauben sie sich gerade der Güter, die sie nur für sich
besitzen wollen.
Wenn sie darüber
streng zur Rechenschaft gezogen werden, sind sie ohne Zweifel für
so viele verantwortlich, als aus ihrem öffentlichen Auftreten
Nutzen gezogen hätten. Denn mit welcher Berechtigung zieht
einer, der den Nächsten in hervorragender Weise Nutzen bringen
könnte, sein Privatinteresse dem Nutzen der anderen vor, wenn
sogar der eingeborne Sohn des höchsten Vaters, um vielen zu
nützen, den Schoß des Vaters verlassen hat und in unsere
Mitte trat?
>Auch gibt es manche,
die sich nur aus Demut weigern, um nicht über solche gesetzt zu
werden, denen sie sich nicht gewachsen glauben. Eine solche Demut
ist, wenn sie noch mit anderen sittlichen Werten verbunden ist, dann
in Gottes Augen echt, wenn sie nicht eigensinnig ein Amt zurückweist,
dessen Annahme ihr zum Nutzen anderer befohlen wird. Denn der ist
nicht wahrhaft demütig, der zwar den göttlichen Willen, ein
Vorsteheramt zu übernehmen, erkennt, das Amt aber dennoch
zurückweist; er darf vielmehr, in Ergebung gegenüber den
göttlichen Anordnungen, frei vom Fehler des Eigenwillens, wenn
ihm die übernahme des Hirtenamtes aufgetragen wird und er mit
Anlagen zum Nutzen anderer ausgerüstet ist, einerseits im Herzen
das Amt fliehen, anderseits soll er sich gegen seinen Willen sich
unterwerfen.
Pastoralregel
1, 5-6: MPL 77,3; BKV2
2. R., Bd. 4,1, S. 72-74 b]
Clara Fey (†
1894):
Nach unserem unvollkommenen menschlichen
Urteil hätte der Herr seine Jünger, die er mit der
Ausbreitung des heiligen Evangeliums beauftragen wollte, aus den
Angesehenen und Großen dieser Welt, aus den Weisen und
Schriftgelehrten wählen sollen. Er aber berief zu sich, die er
selbst wollte, vorzugsweise einfache Männer aus niederem Stand,
damit an ihnen die Kraft Gottes offenbar werde. Diese armen Fischer
waren durch die Einfalt ihrer Gesinnung besser vorbereitet, dem Ruf
dessen zu folgen, der
was vor der Welt töricht ist,
erwählt, um die Weisen zu beschämen und das vor der Welt
Schwache auserwählt, um das Stärkere zu beschämen
[1. Korintherbrief 1, 27] Er berief zu sich, die er selbst wollte.
So ist
es auch heute noch bei jedem Ruf zu einem vollkommeneren Leben, der
an die Seelen ergeht. … Ahmen wir die Jünger nach, die
nicht nur vom Herrn gerufen wurden, sondern auch zu ihm kamen und bei
ihm blieben.
[Clara Fey: Kleine
Betrachtungen III, S. 126]
Josef Freinademetz († 1908) sagte bei seiner
Abschiedspredigt in seiner Südtiroler Pfarrei von St. Martin:
Der göttliche gute Hirte hat mich in Seiner
unergründlichen Güte eingeladen, mit Ihm hinauszugehen in
die Wüste, um Ihm zu helfen auf der Suche nach verirrten
Schafen. Was soll ich also anderes tun, als vor Freude und
Dankbarkeit Seine Hand küssen und mit der Schrift sagen: Siehe,
ich komme! und mit Abraham das Vaterhaus, die Heimat und euch, meine
Lieben, verlassen und in das Land gehen, das der Herr mir zeigen
wird.
Auch für
mich ist es schwer, meine lieben Eltern und so viele Wohltäter
und Freunde zu verlassen. Aber schließlich ist der Mensch nicht
da für diese Welt, er ist für etwas Größeres
geschaffen: nicht um das Leben zu genießen, sondern um dort zu
arbeiten, wohin immer der Herr ihn ruft.
[Günther
Frei, Die Verehrung des heiligen Josef Freinademetz in Südtirol. Verlag A. Weger, Brixen 2003, S. 22ff.]
Franziska Streitel († 1911):
Von Gott gerufene Menschen
sollen Leuchttürme gleichen, deren Strahlen weit in die Brandung
menschlichen Elends hineinleuchten.
Aber wenn man
Wunden heilen will, muss man zuerst Wunden sehen.
3. Prophetische Berufung
Die göttliche Beauftragung spielt vor allem beim Prophetenamt eine entscheidende Rolle. Der Mensch darf es sich nicht selbst anmaßen:
Der wegen seines Engagements gegen die Mafia ermordete Priester Giuseppe Diana (†
1994) über die Berufung zum Prophetenamt:
Unsere
Verpflichtung anzuklagen darf und kann nicht geringer werden. Gott
beruft uns dazu, Propheten zu sein:
- Der Prophet hat einen
Wächterdienst: er sieht die Ungerechtigkeit, er klagt sie an und
lenkt die Aufmerksamkeit auf den ursprünglichen Plan Gottes (Ezechiel
3, 16 - 18).
- Der Prophet erinnert
an die Vergangenheit und bedient sich ihrer, um in der Gegenwart das
Neue zu ergreifen (Jesaja 43).
- Der Prophet lädt
ein, Solidarität im Leiden zu leben, und er lebt sie selbst.
- Der Prophet weist dem
Weg der Gerechtigkeit Priorität zu (Jeremia 22, 3; Jesaja 5).
Wir bitten unsere
Hirten und Mitbrüder, in ihren Predigten ein klares Wort zu
sprechen und zwar bei all jenen Gelegenheiten, in denen ein mutiges
Zeugnis erforderlich ist. Die Kirche bitten wir, nicht auf ihre
prophetische Rolle zu verzichten, damit sich die Mittel der Anklage
und Verkündigung in der Fähigkeit konkretisieren, ein neues
Bewusstsein zu schaffen im Zeichen der Gerechtigkeit, der
Solidarität, der ethischen und bürgerlichen Werte.
https://it.wikipedia.org/wiki/Giuseppe_Diana - abgerufen am
11.10.2019]
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Autor: Abt em. Dr. Emmeram Kränkl OSB - zuletzt aktualisiert am 11.08.2025
korrekt zitieren: Abt em. Dr. Emmeram Kränkl OSB: Artikel
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet das Ökumenische Heiligenlexikon in der
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https://d-nb.info/1175439177 und https://d-nb.info/969828497 abrufbar.