Spiritualität der Heiligen - Eine Quellensammlung
zusammengestellt von Abt em. Dr. Emmeram Kränkl OSB,
Benediktinerabtei Schäftlarn
Spiritualität der Heiligen - Vorbemerkungen
Der Mensch als zeitliches Wesen
Nicht erst die Existenzphilosophen des 20. Jahrhunderts, schon die Kirchenväter und spätere christliche Autoren betonen die Zeitlichkeit des menschlichen Daseins.
1. Die Vergänglichkeit des Lebens
2. Die Kostbarkeit der Zeit
3. Der gegenwärtige Augenblick
1. Die Vergänglichkeit des Lebens
In dichterischer
Sprache beschreibt Ephraem der Syrer († 373)
die Vergänglichkeit des Lebens:
Der Lauf der
Welt ist vergänglich; ihre Sorge, ihr Reichtum und ihr Besitz
gehen vorüber wie ein Hauch. … Zeiten verdrängen Zeiten
und gehen dahin; ein Geschlecht löst das andere ab und
entschwindet. Die Jahre, die Monate und die Tage rufen: Die Welt
vergeht!
Wer in die Welt
eintritt, ist schon auf dem Wege, aus ihr fortzugehen; ja, wer noch
im Mutterleibe liegt, geht schon dem Grabe zu, um darin zu wohnen.
Wer immer geboren wird, dessen Ziel ist das Land des Todes. Einer
betritt die Welt als seinen Aufenthaltsort und ein anderer zieht aus
ihr fort. …
Wer heute noch fröhlich
ist, weint und wehklagt schon morgen. Wer freudenvoll sein
Hochzeitsfest feiert und sich an der Frau seiner Jugend ergötzt,
über den kommt unerwartet der Tod und trennt das Paar, und die
folgende Trauer ist größer als die vorausgegangene Freude.
Wer in prächtigen
Kleidern prangt und in herrlichen Kleidern einherstolziert, dessen
Putz vergeht gleich einem Traum, und das Grab bekleidet ihn mit
Spinngeweben.
Wer hohe Paläste
erbaut und in ihren Hallen stolz umherwandelt, wird plötzlich
vom Ende seines Lebens überfallen; es wirft ihn aufs Totenbett,
fesselt ihm Hände und Füße und verschließt ihm
den Mund, so dass er nicht mehr zu reden vermag. …
Die Welt gleicht der
Nacht, und alle ihre Ereignisse sind Träume. Die Seele versenkt
sich in dieselben und lässt sich durch das Blendwerk verführen.
Wie der Traum in der Nacht täuscht, so täuscht die Welt
durch ihre Verheißungen. Gleichwie der Traum die Seele durch
Bilder und Gesichte betrügt, ebenso betrügt die Welt durch
ihre Lüste und Güter. …
Die Tage reißen
dein Leben wie eine Mauer ein, und die Stunden zerstören des
Lebens Gebäude, sodass du dem Ende zueilst, der du nur ein Hauch
bist. Die Tage bestatten dein Leben, die Stunden sind seine
Totengräber, in Tagen und Stunden entschwindet dein Leben von
der Erde. …
Von Gott ist dein Leben
gemessen und auf die Erde gestellt; jeder Tag nimmt sein Maß,
um den Strom deines Lebens (allmählich) auszuschöpfen. …
Geleite dein Leben in
Frieden und versieh es mit guter Wegzehrung, damit es zu Gott
versammelt werde! Dort wirst du es nach seinem Ende wiederfinden,
wenn du rechtschaffen lebst. Lebst du aber schlecht, so wird dein
Leben weggerafft und geht verloren, und du wirst es suchen, aber
nicht finden.
[Alles ist Eitelkeit Nr. 1-6: BKV II 37, S. 82 - 87]
In einer seiner
Predigten spricht Kolumban „der Jüngere” († 615)
über die Flüchtigkeit des Lebens:
O du
menschliches Leben, zerbrechlich und sterblich bist du, aber wie
viele Menschen hast du getäuscht, verführt, verblendet?
[Ps.-Aug. Serm. 49] Insofern du auf der Flucht bist, bist ein Nichts,
insofern du dich sehen lässt, bist du ein Schatten, insofern du
dich erhebst, bist Rauch; täglich fliehst du dahin und täglich
kommst du, im Kommen schon fliehst du, im Fliehen kommst du,
unähnlich bist du im Ausgang, ähnlich im Ursprung,
unähnlich im Aufwand, ähnlich im Vergehen, angenehm den
Törichten, bitter den Weisen. Die dich lieben, wissen nicht um
dich und die, die dich verachten, kennen dich. Du bist also nicht
wahrhaftig, sondern trügerisch; du zeigst dich als wahrhaftig,
ziehst dich aber zurück als trügerisch. Was also bist du,
menschliches Leben? Du bist der Weg (via) der Sterblichen und nicht
das Leben (vita), bei der Sünde ihren Ausgang nehmend und bist
zum Tode darin verharrend; ein wahres Leben wärst du, wenn
nicht durch die Sünde der ersten übertretung ein Bruch in
dein Leben gekommen wäre und du dann nichtig und sterblich
wurdest, indem du all deine Wanderer dem Tod überantwortet hast.
Du bist also nur ein Weg zu Leben, nicht das Leben selbst; du bist
nämlich ein wahrer Weg, doch kein [für alle] klarer, denn
für die einen bist lang, für die anderen kurz, für die
einen breit, für die anderen schmal, für die einen ein
froher, für die anderen ein trauriger, für alle aber
ähnlich dahineilend und unwiderruflich. Ein Weg bist, ein Weg,
aber kein für alle offenkundiger; denn viele sehen dich, aber
nur wenige erkennen, dass du nur ein Weg bist. So fein und
verführerisch bist du, dass es nur wenigen vergönnt ist,
dich als Weg zu erkennen. Man muss dich also in Frage stellen, darf
dir aber nicht vertrauen und Anspruch auf dich erheben, du bist ein
übergang, aber keine Wohnstätte, du elendes menschliches
Leben; keiner wohnt nämlich auf einem Weg, sondern er geht
darauf, damit die, die auf ihm gehen, [einst] in ihrer Heimat wohnen
dürfen.
Warum also wird in dir,
sterbliches Leben, Wohnung genommen, warum wirst du geliebt, in
Anspruch genommen von den Toren und Verlorenen, aber verachtet von
den Verständigen, warum nehmen sich die, die gerettet werden
sollen, vor dir in Acht. Fürchten muss man sich also und sehr in
Acht nehmen vor dir, menschliches Leben; denn du bist so flüchtig,
so schlüpfrig, so gefährlich, so kurz, so unsicher, dass du
wie ein Schatten oder ein Bild oder ein Wolke oder ein Nichts oder
eine Leere aufgelöst wirst. … Deshalb lasst uns das uns fremde
Irdische meiden, wenn es auch fröhlich, wenn es auch verlockend,
wenn auch ansehnlich ist, damit wird das uns eigene Ewige nicht
verlieren; wollen wir doch treu in dem uns Fremden erfunden werden,
damit wir in dem uns Eigenen und uns Gehörigen zu Erben gemacht
werden, durch die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, der lebt und
herrscht in alle Ewigkeit. Amen
[Columba: Instructio V, Sermon
5, S. 84 - https://www.ucc.ie/celt/published/L201053/index.html; vgl. MPL 40, Sp.1332, eigene Übersetzung]
Hermann der Lahme († 1054):
O, meine
reizenden Gefährtinnen und geliebten Schwestern, verschmäht
die eitlen Freuden des weltlichen Lebensweges!
Im großen Meer
liegt als ein Teil das winzig kleine Tröpflein, und dieser unser
vorbeihuschender winziger Augenblick steht neben tausend Jahren. Aber
mit dem ewigen Leben, sei es froh oder leidvoll, kann man dieses
Leben, das uns in dieser Welt hält, nicht vergleichen. Ja,
dieses geht schnell vorüber, jenes besteht ewig, und zählt
man noch so viel, nähert es sich in sehr vielen Jahrhunderten
nicht dem Ende. Dieses Leben vermag in keinem Nu zu verweilen,
sondern eilt auf sein endgültiges Ende zu. Wir laufen auf die
Grenze des sicheren Todes in Stunden, Minuten, Augenblicken zu, als
würden wir uns Schritt für Schritt nähern. Ob ich will
oder nicht, ich laufe und habe keine Möglichkeit, stehen zu
bleiben. Während ich eine kurze Silbe spreche, bin ich schon dem
Tode näher. Warum frage ich, begehrt man es? Oder warum nennt
man es Leben? Wer es aufmerksamer betrachtet, sieht, dass es beinahe
nichts ist. Warum, frage ich, wird Leben genannt, was wir als einen
sehr kurzen Weg, der den Tod als Ziel hat, erkennen müssen,
[noch] während wir ihn gehen? Auch wenn es sehr froh und ganz
von Glück erfüllt wäre, wem könnten diese
Freuden, die nur einen Augenblick währen, zu Recht gefallen?
Denn ein großer
Tor wäre, wer ein süßes Tröpflein kosten möchte,
wenn er danach das bittere Meer in seinem Bauch zu bergen müsste.
Auch derjenige ist ziemlich töricht, der in diesem Augenblick
danach strebt, sich zu vergnügen, wenn er tausend Jahre trauern
müsste. Jener wäre nicht weiser, sondern zweifellos viel
dümmer, der die ewigen Freuden verachtet und die vergänglichen
sucht.
[Hermann der Lahme: Opusculum Herimanni (De octo vitiis principalibus) / Eine Vers- und
Lebensschule, übersetzt von Bernhard Hollick, (= Reichenauer Texte und
Bilder 14, hrsg. von Walter Berschin), Mattes Verlag. Heidelberg, S.
74 - 77]
2. Die Kostbarkeit der Zeit
Die Einsiedlerin Theodora
(† 304 ?) sagte:
Wenn
jemand Gold oder Silber verliert, kann er wiederum anderes Gold oder
Silber erwerben, anstatt des Verlorenen. Wer aber die Zeit seines
Lebens in Nichtigkeit verbringt, der verliert diese Zeit und kann sie
nicht mehr zurückerwerben. Er wird es in der Stunde seines Todes
sehr bereuen, denn er wird einen Anteil beim Teufel haben.
[Meterikon. Die Weisheit der
Wüstenmütter, hrsg. und übersetzt von Martirij Bagin und
Andreas-Abraham Thiermeyer. Sankt Ulrich Verlag, Augsburg
2004, Nr. 84].
Hieronymus (†
420 ?):
Zeit ist das einzige, was nicht einmal
ein Dankbarer erstatten kann.
Augustinus von Hippo (†
um 430):
Ihr seid die Zeit. Seid ihr gut, sind
auch die Zeiten gut.
Humilitas Negusanti († 1310):
Liebste Brüder
und Schwestern, für uns, die wir Religiosen (Ordensleute) sind
und doch Mangel an Tugenden aufweisen, ist jetzt der Zeitpunkt
gekommen zu wachen, bevor die Zeit anbricht, da es heißt
wegzugehen; denn die Tage vergehen und im Vergehen kommt die Stunde
zu ruhen. Wir haben genug geschlafen: Stehen wir auf mit weinendem
Herzen!
Johannes vom Kreuz († 1591):
Großen Schmerz um jede
Zeit empfinden, die man vergeudet hat oder vorbeigehen lässt,
ohne Gott zu lieben.
Johannes Bosco (†
1888):
Nützt die
Zeit, und die Zeit wird euch nützen in der Ewigkeit.
(XVIII, 482)
Man muss
arbeiten, als bräuchte man nicht zu sterben und leben, als könnte
man jeden Tag sterben.
(VII, 484)
Charles de Foucauld († 1916):
Alles, was nicht dahin führt,
Gott besser zu kennen und Ihm besser zu dienen, ist verlorene Zeit.
Pio da Pietrelcina († 1968):
Die Zeit, die man zur Ehre
Gottes und zum Wohl des Nächsten opfert, ist niemals vergeudet.
3. Der gegenwärtige Augenblick
Die einzige Zeit, über die wir verfügen können, ist der jetzige Augenblick:
„Meister” Eckart
(† 1327/1328):
Der gegenwärtige Augenblick ist
das Fenster, durch das Gott in das Haus meines Lebens schaut.
Immer ist die
wichtigste Stunde die gegenwärtige; immer ist der wichtigste
Mensch, der dir gerade gegenübersteht; immer ist die wichtigste
Tat die Liebe.
Maria Kreszentia Höß
(† 1744):
Ein geistlicher
Mensch sollte sich nicht allzu sehr um die Zukunft sorgen, sondern
seine Sorge soll sein, wie er im Augenblick Gott lieben und ihm nach
Kräften dienen könnte.
Klemens Maria Hofbauer († 1820):
Die Zeit ist soviel
wert als Gott selbst, weil man in einem Augenblick verloren gehen
kann und in einem Augenblick Gott selbst zu gewinnen vermag. Zieht
also aus dem Augenblick, der in eurer Gewalt steht, Nutzen.
Charles de Foucauld († 1916):
Es gibt keinen Augenblick in
unserem Leben, in dem wir nicht einen neuen Weg einschlagen könnten.
Wilhelm Eberschweiler († 1921):
Meine
Vergangenheit liegt tief versenkt im Schoße der göttlichen
Barmherzigkeit. Meine Zukunft ruht wohlgeborgen im Schoße der
väterlichen Vorsehung. Meine Gegenwart zeigt mir in meinen
Pflichten den allerheiligsten Willen Gottes. Und dahinein gehöre
ich mit Leib und Seele! Dann bin ich und bleibe ich stets vereint mit
Gott.
Der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber (†
1965):
Der Augenblick ist Gottes Gewand.
Die Zehn Gebote der
Gelassenheit von Papst Johannes XXIII. († 1963):
1. Nur für
heute werde ich mich bemühen, den Tag zu erleben, ohne das
Problem meines Lebens auf einmal lösen zu wollen.
2. Nur für heute
werde ich große Sorgfalt in mein Auftreten legen: vornehm in
meinem Verhalten; ich werde niemand kritisieren, ja ich werde nicht
danach streben, die anderen zu korrigieren oder zu verbessern - nur
mich selbst.
3. Nur für heute
werde ich in der Gewissheit glücklich sein, dass ich für
das Glück geschaffen bin - nicht für die andere, sondern
auch für diese Welt.
4. Nur für heute
werde ich mich an die Umstände anpassen, ohne zu verlangen, dass
die Umstände sich an meine Wünsche anpassen.
5. Nur für heute
werde ich zehn Minuten meiner Zeit einer guten Lektüre widmen;
wie die Nahrung für das Leben des Leibes notwendig ist, ist eine
gute Lektüre notwendig für das Leben der Seele.
6. Nur für heute
werde ich eine gute Tat verbringen, und ich werde es niemandem
erzählen.
7. Nur für heute
werde ich etwas tun, für das ich keine Lust habe zu tun: sollte
ich mich in meinen Gedanken beleidigt fühlen, werde ich dafür
sorgen, dass es niemand merkt.
8. Nur für heute
werde ich fest glauben - selbst wenn die Umstände das Gegenteil
zeigen sollten - , dass die gütige Vorsehung Gottes sich um mich
kümmert, als gäbe es sonst niemanden auf der Welt.
9. Nur für heute
werde ich keine Angst haben. Ganz besonders werde ich keine Angst
haben, mich an allem zu freuen, was schön ist - und ich werde an
die Güte glauben.
10. Nur für heute
werde ich ein genaues Programm aufstellen. Vielleicht halte ich mich
nicht genau daran, aber ich werde es aufsetzen - und ich werde mich
vor zwei übeln hüten: der Hetze und der
Unentschlossenheit.
[https://www.gluecksarchiv.de/inhalt/lebensregeln_johannes23.htm
- abgerufen am 9.11.2019]
zurück zur vorherigen Seite
Autor: Abt em. Dr. Emmeram Kränkl OSB - zuletzt aktualisiert am 16.08.2025
korrekt zitieren: Abt em. Dr. Emmeram Kränkl OSB: Artikel
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet das Ökumenische Heiligenlexikon in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
https://d-nb.info/1175439177 und https://d-nb.info/969828497 abrufbar.