Spiritualität der Heiligen - Eine Quellensammlung
zusammengestellt von Abt em. Dr. Emmeram Kränkl OSB,
Benediktinerabtei Schäftlarn
Gottes Gegenwart
Nach einem naiv-kindlichen Glauben ist der Ort Gottes der Himmel, der getrennt von bzw. über der Erde vorgestellt wird. Danach besteht eine scharfe Trennung zwischen Diesseits und Jenseits. Demgegenüber betonen viele geistliche Schriftsteller die Allgegenwart Gottes. Die Theologen sprechen hier von der Transzendenz und der Immanenz Gottes.
1. Allgegenwart Gottes
2. verschiedene Weisen der Gegenwart
3. Konsequenzen für unser Leben:
3.1 im Alltag
3.2 bei Versuchungen
3.3 auch außerhalb der Gebetszeiten
4. immerwährende Gegenwart
1. Allgegenwart Gottes
So schreibt
Hilarius von Poitiers († 367 ?): Kein
Platz ist, in dem nicht Gott, keiner, der nicht in Gott wäre. Er
ist im Himmel, er ist in der Tiefe, er ist jenseits der Meere. Von
innen her erfüllt er sie, nach außen hin überragt er
sie. So also: in dem er hat, wird er auch gehabt; weder ist er
irgendwo eingeschlossen, noch fehlt er in einem einzigen Ding.
Auch „Meister” Eckart († 1327) betont:
Gott ist auch an
allen Orten, und an jedem Ort ist Gott ganz. Das will so viel sagen,
dass alle Orte ein Ort Gottes sind.
Der Benediktiner und asketische Schriftsteller Johannes von
Kastl († nach 1426) verschärft diese
Aussage noch: Durch seine Wesenheit ist Gott jedem Dinge
innerlich näher und gegenwärtiger als dieses Ding sich
selbst. In ihm sind alle Dinge zugleich vereinigt und leben ewig in
ihm.
Es ist nach
Claudius de la Colombière († 1682)
also ein Irrtum, sich Gott immer nur in einem jenseitigen Himmel
gegenwärtig vorzustellen: Wie wenn Sie vergessen
hätten, dass er nicht wirklicher im Himmel ist als dort, wo Sie
beten, ja auch in Ihrem Herzen, wo er in Wahrheit unsichtbar, aber so
wirklich wohnt wie Jesus Christus im hl. Sakramente des Altares ist.
Der Himmel ist also für Sie überall, weil alles erfüllt
ist von Ihrem Gott und Sie selber ganz von ihm erfüllt sind.
[Aszese und Mystik des sel. P.
Claudius de la Colombière S.J. In: Zeitschrift für Aszese
und Mystik 4 (1929), S. 263-73]
Nach Philipp Jeningen († 1704)
dürfen wir auf die
heiligste Gegenwart des besten, gütigsten, liebevollsten,
geliebten Gottes
vertrauen: Er bleibt, wenn alles übrige
vergeht, er verlässt uns nicht, wenn alles uns verlässt. Im
allgegenwärtigen Gott besteht das Gegenwärtige, vergeht das
Vergangene nicht und ist das Kommende gleichsam schon gegenwärtig.
[Auch auf Erd ist Gott
mein Himmel
/ Pater Philipp Jeningen SJ / Missionar und
Mystiker, Leben und Briefe hrsg. v. Julius Oswald SJ, Ostfildern
2004, S. 63-65]
2. verschiedene Weisen der Gegenwart
Johannes-Baptist de La Salle
(† 1719) unterscheidet in
seinen Schriften über die mystische Gegenwart Christi
beim Unterricht
verschiedene Weisen der Gegenwart
Gottes in unserem Leben:
Man kann Gott in dreifacher Weise
als gegenwärtig annehmen: (1.) Zunächst als gegenwärtig
an dem Orte, an welchem man sich gerade befindet. (2.) Zweitens als
gegenwärtig im eigenen Selbst, also im Inneren der Seele. (3.)
Und drittens als gegenwärtig in der Kirche.
Jede dieser drei Arten,
Gott als gegenwärtig zu denken, Gott als gegenwärtig zu
fühlen, kann auch noch in zweierlei Weise verstanden werden.
(1.) Denn am Ort, wo
man sich gerade befindet, kann man Gott fühlen, weil Gott
überall ist. Sodann, weil Gott besonders dort gegenwärtig
ist, wo zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind (vgl. Matthäusevangelium
18, 20).
(2.) Ebenso ist Gott in
unserem eigenen Inneren stets gegenwärtig, sowohl deshalb, weil
Er immer in uns ist, schon um uns überhaupt leben zu machen, und
zweitens, weil Er aus besonderer Gnade und durch den Heiligen Geist
in uns sein kann.
(3.) Zuletzt ist Gott
in der Kirche, erstens überhaupt, weil dies das Haus Gottes ist,
und zweitens, weil unser Heiland Jesus Christus im Heiligen Sakrament
immer gegenwärtig ist, und seine Wohnung im Tabernakel des
Altars genommen hat.
[Aus
seiner Schrift über die mystische Gegenwart Christi beim
Unterricht
; zitiert nach: W. Tritsch, Einführung in die
Mystik, Pattloch, Augsburg 1990, S. 314]
3.1 Konsequenzen für unser Leben im Alltag
Weil Gott überall gegenwärtig ist, fordern uns geistliche Autoren auf, bewusst in dieser Gegenwart zu wandeln und zu leben.
So mahnt etwa der
Mönchsvater Makarius der Ägypter
(† um 390)::
Denkt immer an
die Gegenwart des Allmächtigen, der die Gedanken aller Menschen
durchschaut und die Herzen durchforscht!
Der Mönchsvater
Barsanuphios (um † 540)
empfiehlt:
Wer die ständige
Gegenwart Gottes üben lernen will, muss ohne jede Furcht damit
anfangen. Dann hilft ihm Gott mit seiner Gnade. Säe in Hoffnung
und die Ernte wird reifen. Preise Gott und deinen Anfang wird er
segnen. In dem Maße, wie du dich anstrengst, wird er dir seine
Kraft schenken.
Heinrich Egher (†
1408) fordert daher:
So soll deine
Seele und dein dem Leib eingegossener Geist äußerlich für
den Leib sorgen, dass er innerlich Gott im Bewusstsein hält.
Denn Gott ist überall, überall ganz, einer, einfach,
ungeteilt, und nichts ist einem liebenden und von Sehnsucht erfülltem
Herzen gegenwärtiger als Gott, und nichts anderes sucht Gott von
dir als dein Herz.
3.2 Konsequenzen für unser Leben bei Versuchungen
Petrus von Alcántara († 1562) empfiehlt bei Versuchungen und
Anfechtungen:
Seid euch stets
der Gegenwart Gottes bewusst. Macht es wie die Fische: Wenn sich ein
Sturm erhebt und der Wind die Wellen hochpeitscht, bleibt der Fisch
gewiss nicht an der Oberfläche des Wassers. Er taucht in die
silberne Tiefe hinab und findet dort Ruhe. Macht es wie der Fisch:
Wenn ihr spürt, dass sich ein Tumult erhebt, vertieft euch
sogleich in die Betrachtung, bergt euch in den Armen Christi, und ihr
werdet gegen jede Anfechtung der Welt und der dunklen Kräfte
geschützt sein.
[aus: Peter Dyckhoff, über die Brücke gehen / Exerzitien im
Alltag nach Petrus von Alcántara. Don Bosco Verlag,
München 2001, S. 313-16]
3.3 Konsequenzen für unser Leben auch außerhalb der Gebetszeiten
Auch außerhalb der Gebetszeiten sollen wir versuchen, in der Gegenwart Gottes zu wandeln:
So Johannes vom Kreuz († 1591):
Sich bemühen,
immer in der Gegenwart Gottes zu wandeln, in der wirklichen oder in
der vorgestellten oder in der einigenden, je nachdem, wie es sich mit
den Werken verträgt.
Alfons Rodríguez
(† 1617) verweist auf seine Gepflogenheit: Wenn
ich nicht im Gebet war, so wandelte ich in Gottes Gegenwart. Ich
wandelte vor Gott, wie ein Freund mit dem Freund in angenehmem
Gespräch auf und ab geht … Da ist meine Art, wie ich bei der
Arbeit bete.
Der französische Karmeliter und Mystiker
Bruder Lorenz
(†1691) erklärt. wie es möglich ist,
ständig in der Gegenwart Gottes zu wandeln:
Die
heiligste, die einfachste und notwendigste übung im Leben des
Geistes ist die Vergegenwärtigung Gottes; du sollst nämlich
deine Freude an seiner göttlichen Gesellschaft haben und dich an
dieselbe gewöhnen, indem du IHN demütig ansprichst, dich
mit liebevoller Neigung des Herzens mit IHM unterredest und zwar zu
jeder Zeit, ja alle Augenblicke, ohne dich an eine Regel oder an ein
Maß zu binden, besonders aber zur Zeit der Anfechtung, der
Widerwärtigkeit, der Dürre, der Betrübnis und
Verlassenheit, ja, wohl auch in unseren Sünden und Untreuen. Wir
müssen uns zu jeder Zeit befleißen, alle unsere Geschäfte
ohne Unterschied in kleine Unterredungen mit Gott zu verwandeln, doch
ohne Künstelei, in Einfalt des Herzens.
www.arbeiter-im-weinberg.de/bruder-lorenz
www.kleine-spirituelle-seite.de/files/template/pdf/bruder_lorenz
- abgerufen am 07.04.2020]
vgl. auch Stanislaus Papczyński, †
1701)
4. immerwährende Gegenwart
Die französische Mystikerin Lucie
Christine († 1908) nimmt die lebenslange Erfahrung
der Gegenwart Gottes zum Anlass, ihn zu loben und zu preisen:
Du bist der Gott
meiner Kindheit, die Deine Liebe stammelte. …
Du bist der Gott meiner
ersten Kommunion, jener ersten lang und glühend ersehnten
Begegnung.
Du bist der Gott meiner
Jugend …
Du bist der Gott meiner
reifen Jahre. Schwäche und vorzeitige Krankheit ergreifen sie
nun schon, aber Deine Liebe belebt und durchsonnt sie …
So wirst Du auch der
Gott meines Alters sein, falls ich alt werden soll,
der Gott meines Todes
und meiner Ewigkeit.
Ja, ich vertraue, Du
gibst mir Deinen Himmel, so wie Du mir ohne mein Verdienst bereits
alles gegeben hast, und meine ganze Ewigkeit soll nicht zuviel sein,
Dir zu lobsingen, Dich zu lieben, Dich zu preisen!
(Juli
1896)
[Lucie
Christine, Gabrielle Bossis, Geistliches Tagebuch, … sich von
ihm lieben zu lassen
, ausgew. u. hrsg. v. Siegfried Foelz,
Leipzig o. J. - https://frauellie.wordpress.com/2013/05/23/lucie-christine-geistliches-tagebuch
- abgerufen am 13.04.2018]
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Autor: Abt em. Dr. Emmeram Kränkl OSB - zuletzt aktualisiert am 07.08.2025
korrekt zitieren: Abt em. Dr. Emmeram Kränkl OSB: Artikel
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