Ökumenisches Heiligenlexikon

Spiritualität der Heiligen - Eine Quellensammlung

zusammengestellt von Abt em. Dr. Emmeram Kränkl OSB,
Benediktinerabtei Schäftlarn

Vorbemerkungen

Gottes Reich und Herrschaft

In der Verkündigung Jesu ist die Königsherrschaft Gottes ein zentraler Begriff. Die volle Verwirklichung des Gottesreiches liegt in der endzeitlichen Zukunft, wird aber schon in der Gegenwart im Wirken Jesu, in seinen Heilungswundern, in der Tischgemeinschaft mit den Zöllnern und Sündern und in der Sündenvergebung wirksam und erfahrbar. Das betonen vor allem die Wachstumsgleichnisse Jesu (Markusevangelium 4 und Parallelen).

1. endzeitlich-eschatologische Sicht
2. präsentische Auffassung
3. weitere Deutungen

In der altkirchlichen Sicht schwankt die Reich-Gottes-Vorstellung zwischen einer endzeitlich-eschatologischen und einer präsentischen Sichtweise.

1. endzeitlich-eschatologische Sicht

Irenäus von Lyon († um 200) und Augustinus von Hippo († 430) vertreten diese endzeitlich-eschatologische Sicht. In seinem Werk De civitate Dei betont Augustinus von Hippo den idealen endzeitlichen Charakter des Gottesstaates bzw. der Gottesherrschaft. die im irdischen Bereich, also nicht nur im Staat, sondern auch in der Kirche nur ansatzweise verwirklicht wird. Die volle Verwirklichung geschieht am Ende der Zeiten: Wenn wir sprechen: Zukomme uns dein Reich!, so wird dieses Reich zwar kommen, ob wir es wünschen oder nicht, aber wir regen durch dieses Wort unsere Sehnsucht nach diesem Reich an, damit es für uns komme und wir in ihm zu herrschen verdienen. [Augustinus von Hippo, Brief an Proba, XI,21]

2. präsentische Auffassung

Demgegenüber steht eine spiritualisierende Deutung des Gottesreiches:

Cyprian von Karthago († 258 ) deutet die Gottesherrschaft als Wirklichkeit in uns. Es kann nach ihm aber auch Christus bedeuten, dessen Wiederkunft wir erwarten, da er selbst die Auferstehung ist, weil wir in ihm auferstehen; so kann er auch selbst als das Reich Gottes aufgefasst werden, weil wir in ihm herrschen sollen. [Über das Gebet des Herrn 13]

Als innerseelisches Geschehen deutet auch Gregor von Nyssa († nach 394) die Gottesherrschaft: Wenn wir also die Bitte stellen, es möge das Reich zu uns kommen, so flehen wir damit Gott dem Sinne nach ungefähr also an: Gerettet möge ich werden vom Untergang, befreit werden vom Tode, losgelassen aus den Fesseln der Sünde, nicht mehr solle herrschen über mich der Tod, nicht mehr soll wirksam werden die Zwangsherrschaft des Bösen, nicht soll Gewalt über mich haben der Feind, nicht die Sünde mich gefangen nehmen, nein, kommen soll zu mir dein Reich, auf dass von mir zurückweichen oder vielmehr in das Nichts übergehen die Leidenschaften, die mich jetzt beherrschen und zu knechten suchen! … Wenn aber das Reich anbricht, so entweichen Trauer und Jammer; dafür kehren ein Leben, Freude, Frohlocken. Gleich bedeutend mit der Bitte um das Kommen des Reiches bezeichnet er auch die Bitte: um das Kommen des Hl. Geistes: Was nämlich Lukas Heiligen Geist nennt, nennt Matthäus Reich. [Das Gebet des Herrn, 3. Rede, IV.V]

Inspiriert von Augustinus' Zwei-Staaten-Lehre (irdischer Staat und Gottesstaat) entwickelt Otto von Freising († 1158) eine eigene Geschichtstheologie: Die Verbindung des römischen Reichs mit der Kirche Christi führe schon auf Erden zum Gottesstaat. In folgendem Text stellt er die Frage, warum die Fülle der Zeiten so spät angebrochen ist, die vorausgehenden Weltzeitalter also ohne die rechte Erkenntnis bleiben mussten:
Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn auf die Erde [Galaterbrief 4, 4]. Um die Menschen, die wie Tiere in unwegsamem, unwirtlichem Gelände umherirrten, auf den Weg zurückzuführen, nahm Gottes Sohn Menschennatur an und bot sich den Menschen als Weg an. Um die Verirrten von Falschheit und Irrtum zurückzurufen, erschien er als die Wahrheit. Um die Verschmachtenden zu stärken, bot er sich an als das wahre Leben. Er sprach: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben [Johannesevangelium 14, 6], als wollte er sagen: Ihr habt euch verirrt, kommt zu mir; ich bin der Weg! Damit ihr den Weg ohne Zagen gehen könnt, hört: Ich bin die Wahrheit. Wenn euch die Zehrung auf dem Weg fehlt, sollt ihr spüren, dass ich das Leben bin! … Doch nicht ohne Berechtigung kann man fragen, warum der Retter am Ende geboren werden wollte, als die Zeit, wie Paulus sagt, erfüllt war. Warum ließ er zu, dass die Gesamtheit der Völker so lange, während so vieler Weltzeitalter im Irrtum des Unglaubens zugrunde ging? Der Grund dafür ist hinterlegt in den Schätzen der tiefen und gerechten Entscheidungen Gottes. Wer von den Sterblichen, die noch mit vergänglichem Fleisch umkleidet sind, wollte dies zu erforschen wagen, da doch der Apostel sagt: O Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unergründlich sind seine Entscheidungen, wie unerforschlich seine Wege! [Römerbrief 11, 33] Was sollen wir also tun? Sollen wir schweigen, wenn wir nicht verstehen können? … Nun, wir können Gründe angeben. Nur sind es menschliche, während wir die Gründe Gottes nicht fassen können. So kommt es, dass wir unsere menschlichen Worte gebrauchen, weil wir Menschen sind; wenn wir aber über göttliche Dinge sprechen, fehlt uns die gemäße Sprache. Trotzdem sprechen wir mit besonderer Zuversicht in menschlichen Worten von Gott, weil wir nicht zweifeln, dass er uns, seine Geschöpfe, versteht. Denn wer erkennt besser als der Schöpfer? Daher kommt es, dass wir nach Gottes Willen vieles zu seinem Lob sagen sollen, obwohl man ihn unaussprechlich nennt. Obwohl unsagbar, scheint er doch in gewisser Weise aussprechbar zu sein.
Darum kann Gott nicht mit Recht von den Menschen angeklagt werden, weil er sie tun lässt, was sie selber tun wollen. Und umgekehrt ist er hoch zu preisen und von denen zu lieben, denen er seine Gnade umsonst anbietet und die er von allem abhält, was sie gegen ihr eigenes Heil tun wollen. Man kann ihm auch nicht vorwerfen, dass er die Gnade nicht aufgrund von Gerechtigkeit verleiht, sondern, wie wir glauben müssen, nur aus Erbarmen. Er hat in so vielen Jahrhunderten nicht zur Sünde veranlasst, sondern nur vorenthalten, was sein eigen war. Er tat es, um künftigen Zeiten am Beispiel der früheren zu zeigen, was man meiden und was man dankbar annehmen muss. So wie die einen Gott nicht beschuldigen können, so gab er den andern reichen Grund, ihn mit Recht zu lieben.
Da nun der Staat Christi und sein Reich, das bis zu seiner Geburt fast ausschließlich auf Judäa beschränkt gewesen war, auf alle Völker ausgedehnt werden sollte, gingen die Apostel als die Fürsten und Baumeister dieses Staates in alle Welt, um das Wort des Lebens zu predigen, und zerstreuten sich über alle Länder des Erdkreises. Petrus, dem Fürsten der andren, wurde Rom zuteil, die Herrin der ganzen Welt. Paulus, der die andern an Wissen und Bildung übertraf, ging nach Griechenland, dem Lande der höchsten Geisteskultur und dem Quell aller Philosophie, Johannes nach Asien, Andreas nach Achaja, Matthäus nach äthiopien. Thomas und Bartholomäus nach den beiden Indien, Simon und Thaddäus nach ägypten, Mesopotamien und dem fernsten Persien und Skythien, Philippus nach Hierapolis, während Jakobus in Judäa blieb und die Gemeinde von Jerusalem leitete. Der andere Jakobus war von Herodes enthauptet worden; vorher hatte er, wie berichtet wird, in Spanien gepredigt, wo noch heute sein Grab berühmt ist. Diese gingen nicht mit Waffen, sondern weit wirkungsvoller mit Gottes Wort den Erdkreis an und triumphierten nicht durch fremdes, sondern durch eigenes Blut viel herrlicher als die Römer über die gesamte Welt.

[Otto von Freising: Chronik oder die Geschichte der zwei Staaten, übersetzt von Adolf Schmidt, hrsg. v. Walther Lammers (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters, Bd. 16), Darmstadt 41980 (lateinisch/deutsch). Text zitiert nach: Monastisches Stundenbuch, Eigenfeiern der Benediktinerklöster im Erzbistum München und Freising, Ergänzungsheft 1982, S. 54 - 56]

Guido Maria Conforti von Parma († 1931): Folgendes ist das Kennzeichen, welches das Reich Jesu Christi von den anderen Reichen unterscheidet: Die anderen Reich gründen sich meistens auf dem Schrecken, den ihre Heere verbreiten, und sie halten sich an der Macht aufgrund von Waffengewalt. Das Reich Christi hingegen wird mit überzeugung und Liebe gebildet, mit Liebe gefestigt und mit unaufhörlichem Fortschritt ausgebreitet.

3. weitere Deutungen

Robert Bellarmin († 1621) unterscheidet drei verschiedene Deutungen des Reiches:

Schüler: Was muss man unter Reich Gottes verstehen?
Lehrer: In dreierlei Weise kann man das Reich Gottes verstehen. Denn es gibt ein Reich der Natur, ein Reich der Gnade und ein Reich der Herrlichkeit.
Das Reich der Natur ist das, wo Gott alle Geschöpfe als absoluter Herr aller Dinge lenkt und regiert. Obwohl nämlich die gottlosen Menschen sich bemühen, Unheil anzurichten und das Gesetz Gottes nicht beachten, herrscht Gott dennoch über sie, weil er ihre Pläne vereitelt, wenn es ihm gefällt. Wenn er es aber doch manchmal zulässt, dass sie das erlangen, was sie wollen, bestraft er sie danach streng, und es gibt niemanden, der seinem Willen widerstehen kann oder etwas tun kann, wenn er es nicht befiehlt oder zulässt.
Das Reich der Gnade ist das, wo Gott die Seelen und Herzen der guten Christen lenkt und regiert, indem er ihnen die Gesinnung und die Gnade gibt, ihm bereitwillig zu dienen und seine Ehre mehr als alles andere zu suchen.
Das Reich der Herrlichkeit wird im Jenseits nach dem Tag des Gerichts sein, weil Gott dann mit allen Heiligen über alles Geschaffene herrschen wird, ohne dass es irgendeinen Widerstand geben wird. Denn dann wird den Dämonen und allen gottlosen Menschen alle Macht genommen sein, und sie werden in den ewigen Kerkern der Hölle gefangen sein. In jener Zeit wird dann auch der Tod ausgelöscht sein sowie der Zustand der Verderbnis samt allen Versuchungen der Welt und des Fleisches, die die Diener Gottes jetzt plagen. Infolgedessen wird es ein friedliches Reich sein, in dem jeder die vollkommene, ewige Glückseligkeit als unverlierbaren Besitz hat.

Schüler: Um welches dieser drei Reiche geht es in dieser Bitte?
Lehrer: Es geht nicht um das erste, weil es nicht erst kommen muss, sondern schon gekommen ist, und auch nicht um das zweite, weil davon die erste Bitte handelt und es zum Teil bereits gekommen ist. Vielmehr spricht man vom dritten, das kommen soll und das all jene mit großem Verlangen erwarten, die das Elend dieses Lebens kennen. Darum betet man in dieser Bitte um unser höchstes Gut und die vollkommene Herrlichkeit für die Seele und den Leib.

Schüler: Wenn das Reich Gottes, nach dem wir verlangen und von dem wir erbitten, dass es bald komme, erst nach dem Tag des Gerichts beginnt, dann verlangen wir also danach und erbitten, dass die Welt bald ein Ende nimmt und dass bald der Tag des Gerichts kommt?
Lehrer: Ja, so ist es. Denn während es für die, die die Welt lieben, keine schlimmere Nachricht geben kann, als vom Tag des Gerichts zu hören, sehnen sich die Bürger des Himmels, die jetzt als Pilger und Verbannte hier unten auf der Erde leben, nach nichts mehr als gerade danach. Darum sagt der hl. Augustinus von Hippo, dass wie vor dem Kommen Christi in die Welt alles Verlangen der Heiligen des Alten Bundes sich auf das erste Kommen Christi richtete, sich so jetzt alles Verlangen der Heiligen des Neuen Bundes auf die Wiederkunft desselben Christus richtet, der uns die vollkommene Seligkeit bringen wird.

[vgl. Expositio Orationis Dominicae, in: Robertus Bellarminus, Opera oratoria postuma, hrsg. v. Sebastian Tromp, Bd. 6, Rom 1945, S. 230ff.; und derselbe: Controversiae 14. I, 4 - 6; Katechismen, Glaubensbekenntnis, Vater unser, übersetzt und hrsg. v. Andreas Wollbold, Würzburg 2008]

Weitere Beispiele und Deutungen finden sich in den zahlreichen Vater-unser-Auslegungen der Kirchenväter und späterer Theologen.


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Autor: Abt em. Dr. Emmeram Kränkl OSB - zuletzt aktualisiert am 09.08.2025

korrekt zitieren: Abt em. Dr. Emmeram Kränkl OSB: Artikel
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