Ökumenisches Heiligenlexikon

Spiritualität der Heiligen - Eine Quellensammlung

zusammengestellt von Abt em. Dr. Emmeram Kränkl OSB,
Benediktinerabtei Schäftlarn

Vorbemerkungen

Wachsamkeit

In den Evangelien ruft Jesus zur Wachsamkeit auf angesichts des nahe erwarteten Endes der Welt und des damit verbundenen Gerichts (Mt 24,42-44; Lukasevangelium 12,35-40; vgl. 1 Thess 5,1-11), aber auch angesichts der Versuchungen, denen wir in der Gegenwart ausgesetzt sind ( Mk 14,32ff. Parr; vgl. 1. Korintherbrief 16,13; 1 Petr 5,8).

Der Altvater Antonius der Einsiedler († 356 ?) Antonios sprach zum Altvater Poimen: Das ist das große Werk des Menschen, dass er seine Sünde vor das Angesicht Gottes emporhalte, und dass er mit Versuchung rechne bis zum letzten Atemzug." [Weisung der Väter, übers: v. B. Miller; Freiburg i. B 1965, Nr. 4]

Um sein Leben im Sinne Gottes recht zu leben, rät Antonius, sich täglich den möglichen Tod vor Augen halten: "Um nicht sorglos zu werden, ist es nützlich für uns, jenes Wort des Apostels zu beherzigen, das ‚Täglich sterbe ich [1. Korintherbrief 15,31]. Denn wenn auch wir so leben, als ob wir täglich sterben sollten, dann werden wir nicht sündigen. Jenes Wort ist gesagt, auf dass wir, wenn wir jeden Tag erwachen, glauben, nicht bis zum Abend zu leben, und wiederum damit wir, wenn wir einschlafen, glauben, nicht mehr zu erwachen; denn von Natur ist unser Leben unsicher, und es wird uns täglich von der Vorsehung zugemessen. Wenn wir uns so halten und täglich danach leben, werden wir nicht in Sünden fallen, wir werden nichts begehren, keinem zürnen, wir werden keine Schätze sammeln auf Erden. Vielmehr werden wir, wie wenn wir täglich den Tod erwarteten, besitzlos sein und allen alles verzeihen."

[Athanasios von Alexandria, Vita des Antonius]

Wir sind im Leben vielfachen Versuchungen ausgesetzt. Die Einsiedlerin Synkletika († um 400)rät, wie wir ihnen begegnen sollen:

"Vielfach sind die Nachstellungen des Teufels. Kann er die Seele nicht durch Armut abbringen, dann bringt er den Reichtum als Köder herbei. Vermag er nichts durch Schmach und Schande, dann hält er ihr Lob und Ehre vor. Wenn er durch Gesundheit Niederlagen einstecken muss, macht er den Leib krank. Wenn er mit den Lüsten nicht täuschen kann, dann versucht er, durch ungewollte Anstrengungen den Umschwung herbeizuführen. Er führt gewisse sehr schwere Krankheiten herbei, wenn es ihm erlaubt wird, um bei denen, die kleinmütig werden, die Liebe zu Gott zu verdunkeln. Da wird dann der Leib durch die heftigsten Fieberschauer aufgerieben und durch unerträglichen Durst belästigt. Wenn du als Sünder das auszustehen hast, dann erinnere dich der kommenden Strafe und des ewigen Feuers und der vom Richter verhängten Qualen, und sei wegen der Gegenwart nicht verzagt. Freue dich, dass dich Gott heimgesucht hat, und habe jenes wohlklingende Wort auf der Zunge: 'Züchtigend hat Gott mich gezüchtigt, aber mich nicht dem Tode überantwortet' (Ps 117,18). Du warst wie Eisen, aber durch das Feuer brennst du den Rost weg; wenn du aber als Gerechter der Krankheit verfällst, so wirst du vom Großen zu Größerem fortschreiten. Gold bist du, aber durch das Feuer wirst du noch bewährter. Ein Engel wurde dir für das Fleisch bestellt (2 Kor 12,7). Freue dich! Siehe, wem du gleich geworden bist! Denn des Loses des heiligen Paulus wurdest du gewürdigt … In solchen übungen lasst uns unsere Seelen bilden. Denn vor Augen sehen wir den Feind."

[Weisung der Väter, übers: v. B. Miller; Freiburg i. B 1965, Nr. 898]

Mit folgenden Gedanken ruft Evagrius Pontikus († 399/400) zu einem wachsamen und bewussten Leben auf:

"Wenn du in deiner Zelle sitzt, sammle deinen Geist, gedenke deines Todestages, betrachte dann das Hinsterben deines Leibes, erwäge dein Ungemach, bedenke deine Mühe, erkenne die Vergänglichkeit in dieser Welt sowie den gesitteten Lebenswandel und den Eifer, (die vonnöten sind,) damit du stets im selben Streben nach Einsamkeit verharren kannst und nicht schwach wirst. Denke aber auch an den gegenwärtigen Zustand in der Unterwelt; überlege, wie sich dort demnach die Seelen befinden, in welch bitterstem Schweigen oder in welch entsetzlichem Stöhnen, in welch großer Furcht, welcher Angst oder in welcher Erwartung! Denke an den unaufhörlichen Schmerz, die seelischen und endlosen Tränen. Denke aber auch an den Tag der Auferstehung und des Hintretens vor Gott. Stell dir jenen furchterregenden und schaurigen Richterstuhl vor, mach dir klar, was für die Sünder bereitliegt: Schmach vor dem Angesicht Gottes und seines Gesalbten, der Engel, Erzengel, Mächte und aller Menschen; auch alle Strafmittel, das ewige Feuer, den Wurm, der nicht stirbt, die Hölle, die Finsternis, das bei alledem herrschende Zähneknirschen, die Furcht und die Qualen. Mach dir auch die Güter deutlich, die für die Gerechten aufbewahrt sind: vertrauter Umgang mit Gott dem Vater und seinem Gesalbten, mit Engeln, Erzengeln, Mächten und dem ganzen VoLukasevangelium Gottes; das Reich (Gottes) und seine Gaben, die Freude und den Genuss. Stell dir im Gedächtnis diese beiden Bereiche vor Augen; über die Verurteilung der Sünder stöhne und weine, nimm das Bild des Schmerzes in dich auf, voller Furcht, dass auch du dorthin gelangst. über die Güter aber, die für die Gerechten bereitliegen, freue dich, jauchze und frohlocke. Strebe danach, diese zu genießen, von jenen aber bewahrt zu werden. Pass auf, dass du diese Dinge nie vergisst, ob du nun in deiner Zelle oder irgendwo außerhalb bist; wirf die Einsicht, die die Erinnerung an sie hervorruft, nicht beiseite, damit du - wenn auch nur durch diese Tatsachen - den schmutzigen und schädlichen Gedanken entfliehst."

[Evagrius Pontikos, Grundriss des mönchischen Lebens, in: Philokalie, Bd. 1, "Der Christliche Osten", Würzburg 22007, S. 76f.]

Auch nach dem Ende der Zeit der Verfolgungen bedarf es nach Leo dem Großen († 461) des Starkmuts und der Wachsamkeit vor dem Bösen:

"Vielgeliebte, dieser Starkmut [den die Märtyrer bewiesen] war, wie wir glauben, nicht nur jenen Zeiten vonnöten, in denen die Könige der Welt und all die Machthaber dieser Erde in gottloser Blutgier gegen das VoLukasevangelium Gottes wüteten und sich durch die Ausrottung des christlichen Namens in ihren Ländern höchsten Ruhm erwerben wollten; dabei waren sie sich nicht bewusst, dass ihre grausame Wut nur das Wachstum der Kirche Gottes beförderte. Steigerte sich doch aufgrund der Hinrichtungen und verschiedenen Todesarten der seligen Märtyrer infolge ihres Beispiels die Zahl jener, deren Verringerung man erwartet hatte. …

Das Unwetter früherer Stürme hat sich nun zwar gelegt und infolge der seit langem beendeten Kämpfe zeigt uns eine gewisse Ruhe ihr freundliches Gesicht, doch müssen wir uns achtsam vor jenen Gefahren hüten, die in der Ruhe des Friedens selbst ihren Ursprung haben. Der Feind, der durch offene Verfolgungen nichts ausrichtete, lässt nun in versteckter Arglist seiner Wut freien Lauf: Er möchte die, die er durch offene Bedrängnis nicht niederzuwerfen vermochte, nun durch Verstrickung in sinnliche Lust zu Fall zu bringen. Da er also sieht, dass der Glaube der Fürsten ihm Widerstand leistet und die untrennbare Dreifaltigkeit des einen Gottes ebenso eifrig in den Palästen wie in den Kirchen angebetet wird, schmerzt es ihn, das Blut der Christen nicht mehr vergießen zu können. Er richtet deshalb seine Angriffe auf den Lebenswandel derer, deren Lebensende nicht [mehr] in seiner Verfügung steht. Den Schrecken der ächtung wandelt er in den verzehrenden Brand der Habsucht. Und jene, die er durch die Zufügung von Schaden nicht zu beugen vermochte, verdirbt er durch Gier und Leidenschaft. Seine durch lang währende übung der ihm eigenen Tücken wohl bewanderte Bosheit hat ihren Hass nicht aufgegeben, sondern nur ihre Vorgehensweise geändert, der zufolge sie sich die Herzen der Gläubigen durch lockende Genüsse untertan machen will. Er entflammt in Begierden die, welche er nicht [mehr] mit Folterwerkzeugen quälen kann. Er sät Zwietracht, schürt den Zorn und schärft die Zungen. Und damit nicht Vorsichtigere sich von List und Tücke abwenden, verschafft er ihnen leichte Möglichkeit zum Begehen von Verbrechen. Denn darin besteht für ihn die Frucht von Lug und Trug, dass nun dem, der nicht [mehr] durch Opfer von Schafen und Widdern und durch Verbrennung von Weihrauch verehrt wird, mit allen möglichen Verbrechen gedient wird." [sermo 36,3: MPL 54, Sp. 255 f.; BKV2 54, S. 178f. b]

Ansprache des Hugo I. von Cluny († 1109)an die Nonnen des von ihm selbst gegründeten Klosters Marciniacum (Marcigny):

"Wir beschwören euch beim Herrn und wegen des Herrn, dass ihr euch danach sehnt, dahin eure ganze innere Anspannung richtet, all das, was ihr in der Welt seht, für nichts und eitel und gleichsam für einen vorüberziehenden Nebel zu erachten. Und da ihr weder den Tag noch die Stunde wisst, in der Herr kommt, um euch zu rufen, darum seid euch nicht sicher, darum seid Tag und Nacht auf der Hut, seid besorgt um das Heil eurer Seelen und bereitet das Gemach eurer Herzen zur liebenden Umarmung eures Bräutigams, nämlich jenes großen Königs, dem ihr Treue versprochen habt, und achtet mit größerer Aufmerksamkeit darauf, dass er nichts an euch findet, was seiner Majestät missfallen könnte!"

[Exhortatio ad sanctimoniales apud Marciniacum Deo servientes, in: MPL 159, Sp. 947f.; eigene Übersetzung]


Franziskus von Assisi († 1126) ruft auf zur Achtsamkeit vor den Listen Satans:

"Und darum, Brüder, lasst, wie der Herr sagt (Mt 8, 22), die Toten ihre Toten begraben . Und wir müssen uns sehr hüten vor der Bosheit und Schlauheit des Teufels, der verhindern will, dass der Mensch seinen Geist und das Herz zu Gott, dem Herrn, erhebe; und umhergehend sucht er unter dem Schein eines Gewinnes oder Vorteils das Wort und die Vorschriften des Herrn aus dem Gedächtnis zu entfernen und zu vernichten und das Herz durch weltliche Geschäfte und Sorgen zu verblenden und sich dort einzunisten, wie der Herr sagt… (vgl. Mt 12, 43-45):. Darum, Brüder, hüten wir uns sorgfaltig, dass wir nicht unter dem Schein eines Gewinnes, Werkes oder einer Erleichterung Geist und Herz verlieren oder von Gott abwenden. [H. U. von Balthasar (Hrsg.), Die großen Ordensregeln, Lectio spiritualis 12, Einsiedeln 71994, S. 306-08]

Nach Hildegard von Bingen († 1179)ist es Pflicht eines Hirten, darüber zu wachen, dass das Unkraut nicht den Garten überwuchert:

Das Lebendige Licht, das Wundersames zeigt, spricht: Du, der du Vater bist in deinem Amt und Hirt zur Förderung der Seelen: strecke deinen Arm aus, damit der Feind kein Unkraut auf deinen Acker sät. Trage Vorsorge für deinen Garten, den Gottes Gabe gepflanzt, und sei auf der Hut, dass seine Gewürzkräuter nicht verdorren. Schneide vielmehr das Faule von ihnen ab, wirf es weg - denn es erstickt das Wachstum - und bringe sie so zum Blühen. Wenn die Sonne ihre Strahlen verbirgt, zieht auch die Welt ihre Freude zurück. Weiter sage ich: Verfinstere deinen Garten nicht durch träges Schweigen, sondern tadle, was getadelt werden muss im wahren Lichte, mit der Gabe der Unterscheidung. Erleuchte auch deinen Tempel durch Wohlwollen. Zünde Feuer an in deinem Rauchfass und lege Myrrhe darauf, damit ihr Rauch emporsteige zum Palast des lebendigen Gottes, und du wirst leben in Ewigkeit.

[Hildegard an Bischof Hermann von Konstanz, aus: Hildegard von Bingen, Briefwechsel, übersetzt von A. Führkötter, Salzburg 1965, S. 59]


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Autor: Abt em. Dr. Emmeram Kränkl OSB - zuletzt aktualisiert am 07.08.2025

korrekt zitieren: Abt em. Dr. Emmeram Kränkl OSB: Artikel
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