Spiritualität der Heiligen - Eine Quellensammlung
zusammengestellt von Abt em. Dr. Emmeram Kränkl OSB,
Benediktinerabtei Schäftlarn
Betrachtung und Meditation
In einer Zeit, in der östliche Meditationstechniken angepriesen werden, ist nicht zu vergessen, dass Betrachtung und Meditation auch in der Kirche eine lange und bedeutungsvolle Tradition haben.
1. Was heißt betrachten bzw. meditieren? 2. Ablauf und Inhalt der Betrachtung 3. Betrachtung, Lesung und Gebet 4. Empfehlung und Sinn der B.
1. Hugo von Saint-Victor (1141):
"Unter Meditation versteht man ein ausdauerndes Nachsinnen, bei welchem man der Art, dem Grund und dem Wesen eines bestimmten Sachverhaltes sorgfältig nachgeht. Um über die Art nachzusinnen, fragt man: Was ist es?, wenn man dem Grund nachgeht: Warum ist es?, wenn man über das Wesen nachdenkt: Wie ist es? Es gibt drei Weisen der Meditation: Die eine richtet sich auf die Schöpfung, die andere auf die Heilige Schrift und die letzte auf das praktische Tun. Die erste entsteht aus dem Staunen, die zweite aus dem Lesen und die dritte aus dem umsichtigen Erwägen des Handelns."
[Quellen des geistlichen Lebens, Bd. 2, hrsg. v. Gisbert Greshake u. Josef Weismayer. Matthias-Grünewald-Verlag, Ostfildern 2008, S. 46f.]
2. Petrus von Alcántara († 1562):
"Von den sechs Teilen, die zur übung des innerlichen Gebets gehören:
Das sind, christlicher Leser, die Betrachtungen, in welchen du dich in den Tagen der Woche üben kannst, damit dir so niemals der Stoff fehle, woran du denken kannst: …
1. Ehe man die Betrachtung beginnt, ist es notwendig, dass der Geist und die Seele zu dieser heiligen übung sich fleißig vorbereite, so wie auch die Saiten auf der Zither vorher gehörig gestimmt werden müssen, wenn sie eine liebliche Melodie hervorbringen sollen.
2. Auf die Vorbereitung muss die Lesung jenes Geheimnisses folgen, welches nach der Einteilung der Wochentage an diesem Tag betrachtet werden soll. Besonders ist dies am Anfang nötig, bis sich später durch den beständigen Gebrauch und die Gewohnheit der Gegenstand der Betrachtung von selbst dem Gedächtnis darbietet.
3. Auf die Lesung folgt die Betrachtung [d. h. der Betrachtende lässt die Lesung auf sich wirken, ich achte dabei vor allem auf die Bewegungen der Seele, z. B. Gefühle der Freude, des Trostes, der Trauer, der inneren Abwehr.]
4. An die Betrachtung schließe man eine andächtige Danksagung für die empfangenen Gnadenerweisungen.
5. Allgemeine Aufopferung des ganzen Lebens Christi und unserer Werke zu irgend einer Vergeltung der Wohltaten.
6. Endlich folgt die Bitte, welche vorzüglich inneres Gebet genannt wird, wo man um alles bittet, was zu unserem Heil und Wohl so wie zu dem des Nächsten und der ganzen Kirche notwendig und ersprießlich ist.
Diese sechs Teile werden zum inneren Gebet oder zur Betrachtung erfordert und sie haben außer vielen anderen Vorteilen auch diesen Nutzen für den Betrachtenden, indem sie ihm gleichsam verschiedene Arten von Speisen vorsetzen, so dass er, wenn die eine seinem Geschmack nicht zusagt, die andere nehmen, und wenn es ihm mit der einen Betrachtung nicht gelingt, bei der anderen seinen Geist beschäftigen und zur Andacht entflammen kann. übrigens sind nicht bei jeder Betrachtung alle diese sechs Teile notwendig, noch auch braucht man immer dieselbe Ordnung beobachten; jedoch ist es für den Anfänger von großem Nutzen, dass sie eine bestimmte Anweisung haben, wonach sie im Anfang sich richten können."
[Das "goldene Büchlein" des heiligen Petrus von Alkantara über die Betrachtung und das innerliche Gebet, aus d. Span. übersetzt von P. Philibert Seeböck O.F.M., Würzburg 1900, S. 130-32]
Im Alter von 18 Jahren erschien Johanna Maria Bonomo († 1670) Jesus und lehrte sie beten: "Er lehrte sie, sie solle bei der Meditation nicht zu viel Worte machen, sie solle sich nur das Geheimnis vergegenwärtigen und dann auf die Wirkung achten und darauf, [sich selbst] darzubringen, zu bitten und Akte der Ergebung, der Zerknirschung und der Liebe zu erwecken und ähnliches, aber sich zu vieler Worte zu enthalten; auch solle sie sich nicht damit abmühen, sich den Ort und die Personen vorzustellen, sondern sich einfach in einem tiefen Glaubensakt das Geheimnis vergegenwärtigen. So würde sie ein gutes und sicheres Gebet verrichten." [Maria Elisabetta Bottecchia Dehò, Misticismo nella beata Giovanna Maria Bonomo (1606-1670) / Indagini su un testo autobiografico inedito, Roma 2002, S. 68f.; eig. übers.]
3. David von Augsburg (um 1200-1272) über Lesung, Betrachtung und Gebet:
"Die beiden Söhne der Rahel bedeuten das tiefe Forschen nach Wahrheit und des frommen Gebetes reine Absicht auf Gott. Das erste teilt sich in das Studium heiliger Lesung und die Emsigkeit heiliger Betrachtung. Das Gebet aber zielt und führt unmittelbarer zu Gott als Lesung und Betrachtung. Diese beiden bewegen sich wohl um Gott herum, aber das Gebet zielt auf ihn selbst und spricht ihn gleichsam persönlich an, ist ihm darum vertrauter nahe und erreicht wirksamer, was es ersehnt … Erst das fromme Gebet macht die übrigen Werke der Tugend schmackhaft; ohne es wären sie dürr und gäben weniger Vertrauen zu Gott … [Dabei ist] das mündliche Gebet gleichsam nur die äußere Schale, die innere Andacht aber ist gleichsam der Kern oder der daraus gepresste Saft." [David an Bruder Berthold und die Novizen in Regensburg, in: Wolf Brixner, Die Mystiker. Leben und Werk, Augsburg 1987, S. 246f.]
Zum geistlichen Fortschritt bedarf es nach Franz von Sales († 1622) des Gebets und der Betrachtung:
Nichts ist
geeigneter, unseren Verstand von Unwissenheit und unseren Willen von
seinen verderbten Anhänglichkeiten zu reinigen, als das Gebet,
das unseren Verstand in die Helle göttlichen Lichtes rückt
und unseren Willen der Wärme göttlicher Liebe aussetzt.
Das Gebet ist die segensreiche Quelle, deren belebende Wasser die Pflänzchen unserer guten Wünsche zum Grünen und Blühen bringen, jeden Makel von unserer Seele hinwegspülen und das von Leidenschaft erhitzte Herz abkühlen.
Vor allem aber empfehle ich dir das Gebet des Geistes und des Herzens, ganz besonders jenes, das zum Gegenstand das Leben und Leiden des Heilands hat. Wenn du ihn oft betrachtest, wird deine Seele von ihm erfüllt, du lernst seine Art und Weise kennen und deine Handlungen nach den seinen formen.
Er ist das Licht der Welt. In ihm, durch ihn und für ihn müssen wir folglich erleuchtet werden. Er ist die sprudelnde Jakobsquelle (Joh 4,6), die uns von jedem Makel rein wäscht.
Kinder lernen sprechen, indem sie der Mutter zuhören und alles nachzusprechen versuchen; so werden auch wir, wenn wir durch die Betrachtung beim Heiland weilen, seine Worte und Handlungen, sein Denken und Fühlen beobachten, bald durch seine Gnade reden, handeln und wollen lernen wie er selbst.
[Franz von Sales, Philothea / Anleitung zum frommen Leben, Eichstätt 2005, S. 76]
Petrus Fourier († 1640):
"Die geistliche Lesung ist für uns eines der vorzüglichsten Mittel, um in der Vollkommenheit immer mehr voranzuschreiten: Sie ist eine mächtige Waffenrüstung gegen den bösen Feind, ein Bollwerk der Tugend wider die Anfälle ihrer Feinde; sie ist ein Licht, das unsere Herzen entzündet und sie aufflammen macht in heiligen Anmutungen göttlicher Liebe; ein himmlischer Tau, der die Seele befeuchtet, damit sie grüne und Früchte guter Werke aller Art hervorbringe; sie ist ein getreuer Spiegel, welcher uns das Bild unserer Seele mit ihren Makeln und Mängeln vor Augen hält, damit wir uns demütigen und heilsam beschämt werden." [Franz Vogl, Bild einer vollkommenen Ordensfrau oder praktische Anleitung für Ordenspersonen zur Heiligung der täglichen Handlungen im Leben und Sterben nach dem seligen Petrus Fourier, Regensburg/New York/Cincinnati 1881, S. 171]
4. Höchstschätzung beschaulichen Lebens: Gregor von Nazianz (BKV I 404f.)
Eine möglichst hohe Stufe der Beschauung ersteigend werden wir vollkommen und Lehrer der Vollkommenheit: Dionysius (BKV 92).
Johannes Tauler (1361): "Der Mensch soll sich unter Tag oder Nacht immer eine gute Zeit nehmen, und in der soll er sich in den Grund senken, jeder nach seiner Weise."
Alfons Maria Liguori († 1787):
"Die Glaubensgeheimnisse nehmen wir nicht mit den Augen des Leibes, sondern mit den Augen der Seele wahr, wenn diese sie meditiert. Wer die Glaubenswahrheiten nicht meditiert, das heißt im Herzen erwägt, sieht sie nicht und wandelt deshalb im Dunkeln."
Peter Friedhofen († 1860):
Es ist nötig,
dass Eure Augen immer geheftet sind auf das Leben, Leiden und Sterben
Jesu… denn in der Betrachtung des Gekreuzigten wächst die
Liebe und wird groß." ( Brief 24)
Guido Maria Conforti von Parma († 1931) schreibt am 20. Juni 1918 einen Brief an den Klerus seiner Diözese über Nutzen und Notwendigkeit geistlicher Exerzitien:
"Wir lesen im hl. Evangelium, dass unser Herr Jesus Christus sich ab und zu von den Mühen des öffentlichen Lebens an einsame Orte zurückgezogen hat, um sich einzig dem Gebet und der Betrachtung zu widmen. Dort lesen wir auch, dass er zu den Aposteln, als sie von ihren Aussendungen zurückkehrten, um ihm Rechenschaft davon zu geben, was sie gemacht und gelehrt hatten, sagte: ,Kommt auf die Seite an einen einsamen Ort und ruht euch ein wenig aus!' Das tat er, um sie gleichsam verstehen zu lassen, wie die heiligen Ausleger es erklären, dass sie in der Einsamkeit und in der Ruhe neue Kraft schöpfen sollten, um in den anderen immer mehr das Reich Gottes Wirklichkeit werden zu lassen. Das Beispiel und die Ermunterung Christi sollten für uns, verehrte Brüder, Gesetz sein, da wir bestimmt sind, das große Werk der Erlösung und des Heils fortzusetzen …
Es sollte uns nicht leid sein, für einige Tage unsere gewohnte Beschäftigungen aufzugeben zum Vorteil unserer Nächsten, um uns in der Einsamkeit unseres Herzens zu sammeln, die Posten unserer Seele zu überprüfen, neu zu gestalten, was in unserem Verhalten vielleicht mangelhaft ist, und uns einzuüben in edle Vorsätze. Und wer sollte nicht die Notwendigkeit verspüren, sich in den innersten Austausch mit Gott zu begeben und in unmittelbarere Beziehung mit ihm, um zu erkunden, was er von uns will und um die allerwichtigsten Belange zu regeln, nämlich die, die sich auf unser ewiges Heil beziehen?
Auf die Heiligung der Nächsten zu achten gereicht ohne Zweifel dem Herrn zum Ehre, aber unsererseits können wir ihm keine größere Ehre erweisen als die, auf unsere eigene Heiligung zu achten und auf die Verfolgung unseres letzten Ziels. Wir dürfen nicht einen einzigen Augenblick die große Ermahnung des Göttlichen Meisters vergessen: ,Was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, aber an seiner eigenen Seele Schaden erleidet?' Wir dürfen nicht das Tätig-Sein um des Tätig-Seins willen wollen, wie es von einigen in unseren Tagen proklamiert wird, sondern vielmehr das Tätig-Sein um unserer eigenen Heiligung und der unser Brüder willen und diese Aktion bedarf der ständigen Nahrung des inneren Lebens; diese vermittelt uns eine übernatürliche Tätigkeit, die uns dazu bringt, mit Jesus Christus, in Jesus Christus und durch Jesus Christus zu denken, zu urteilen, zu lieben, zu wollen, zu leiden und zu arbeiten, so dass unsere äußeren Tätigkeiten Zeichen des Lebens Christi in uns werden; so dass wir mit dem Apostel sagen können: ,nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir' (Gal 2,10)." [P. Franco Teodori, Diario, atti, discorsi del beato Guido Maria Conforti von Parma Arcivescovo di Parma, 1918-1920, Città del Vaticano 1999, S. 324f.; eigene Übersetzung]
Karl Rahner († 1984): "Der Fromme der Zukunft wird ein 'Mystiker' sein, einer, der etwas erfahren hat, oder er wird nicht mehr sein."
zurück zur vorherigen Seite
Autor: Abt em. Dr. Emmeram Kränkl OSB - zuletzt aktualisiert am 05.08.2025
korrekt zitieren: Abt em. Dr. Emmeram Kränkl OSB: Artikel
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet das Ökumenische Heiligenlexikon in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
https://d-nb.info/1175439177 und https://d-nb.info/969828497 abrufbar.