Spiritualität der Heiligen - Eine Quellensammlung
zusammengestellt von Abt em. Dr. Emmeram Kränkl OSB,
Benediktinerabtei Schäftlarn
Geistliche Lesung - lectio divina
Die Empfehlung der geistlichen Lesung durch die Kirchenväter und deren Hochschätzung im koinobitischen Mönchtum war von kaum zu überschätzender Bedeutung für die geistige Bildung in der späteren Kirche.
Empfehlung der Schriftlesung in BKV: Ephraem der Syrer; Basilius „der Große”; Johannes „Chrysostomus”; Johannes von Damaskus.
Die Lesung des Neuen Testaments ist nützlich, die des Alten TestamentsWir verwenden den Begriff Altes Testament, wissend um seine Problematik, weil er gebräuchlich ist. Die hebräische Bibel, der „Tanach” - Akronym für „Torah” (Gesetz, die fünf Bücher Mose), „Nevi'im” (Propheten) und „Kethuvim” (Schriften) - hat aber natürlich ihre unwiderrufbare Bedeutung und Würde. kann Schwachen schaden: Basilius „der Große” (BKV I 85).
Schriftlesung bringt Leben und Heil: Ambrosius von Mailand (BKV I 39f).
Die Kleriker sollen ihre freie Zeit auf Schriftlesung verwenden: Ambrosius von Mailand (BKV III 53f).
Vorbedingung für den Nutzen der Schriftlesung: Augustinus von Hippo (BKV VIII 47).
Cyprian von Karthago († 258):
Deine ständige
Beschäftigung sei das Gebet oder die [geistliche] Lesung! Rede
du bald selbst mit Gott, bald lass Gott zu dir reden!
Schriftlesung und
Gebet sind nach Basilius „der Große” († 379)
zwei tragende Säulen unseres geistlichen Lebens:
Der
vornehmlichste Weg, den Pflichtenkreis [unseres geistlichen Lebens]
kennen zu lernen, ist gerade die Beschäftigung mit den göttlich
inspirierten Schriften. Denn hier findet man die Richtlinien für
das Handeln [ebenso] wie den Lebenswandel der gottseligen Männer
schriftlich überliefert; sie liegen uns vor wie lebende Bilder
eines gottgefälligen Wandels zur Nachahmung ihrer guten Werke.
Worin also immer einer sich bedürftig fühlen mag, wenn er
es mit der Nachahmung ernst nimmt, findet er dort gleichsam wie in
einer Allgemeinapotheke die zuträgliche Arznei für sein
Gebrechen. …
Wie die Maler, wenn sie
Kopien von Bildern herstellen, häufig auf das Original schauen,
um dessen Züge auf ihr Werk zu übertragen, so muss auch
derjenige, der nach Vollkommenheit in allen Bereichen des sittlichen
Lebens strebt, auf das Leben der Heiligen wie auf lebende und
handelnde Bilder sehen und sich das Gute an ihnen durch Nachahmung zu
eigen machen.
Gebete wiederum folgen
den Lesungen und ziehen die verjüngte und gekräftigte
Seele, die schon von der Sehnsucht nach Gott ergriffen ist, an sich.
Das ist ja ein gutes Gebet, das eine lebhafte Vorstellung von Gott in
der Seele bewirkt. Und darin besteht das Wohnen Gottes in uns, dass
wir Gott in lebendiger Erinnerung behalten. So werden wir Tempel
Gottes, wenn das beständige Andenken an ihn nicht durch irdische
Sorgen unterbrochen, noch der Geist durch plötzliche Ausbrüche
der Leidenschaft erschüttert wird, sondern wenn der Gottliebende
alles fliehend auf Gott sich zurückzieht, die ihn zur
Unmäßigkeit reizenden Begierden von sich weist und sich
beständig um ein sittlich gutes Leben müht.
[Brief
an Gregor von Nazianz 2,3-4. In: MPG 32, Sp. 228f; BKV II
46, S. 14 - 16 b]
Hieronymus (†
419) empfiehlt der römischen Adligen Demetrias aus der mächtigen Familie der Anicii die Trias von Gebet,
Lesung und Arbeit:
Was ich weiter zu
sagen habe, gilt Dir als Jungfrau, ohne Rücksicht auf äußere
Umstände. Es handelt sich um Dein inneres Leben. Außer der
festen Ordnung, nach der Du zur dritten, sechsten und neunten Stunde,
zur Vesper, zur Mitternacht und am frühen Morgen regelmäßig
dem Psalmengesang und dem Gebet widmen sollst, setze eine bestimmte
Zahl von Stunden fest für das Auswendiglernen der Hl. Schrift
und eine bestimmte Zeit der Lesung, die für dich keine
Anstrengung bedeuten, sondern Dir zur inneren Erholung und Belehrung
dienen soll. Bist du damit fertig, hast Du in der Sorge um dein
Seelenheil fleißig die Knie [zum Gebet] gebeugt, dann sei stets
mit einer Wollarbeit beschäftigt. Lass die Spindel in Deiner
Hand den Faden drehen und fasse die zerstreuten Fäden im
Weberschiffchen. …
Befolgst du diese
Ratschläge, so wird es dir und anderen zum Heil dienen und du
wirst eine Lehrmeisterin eines heiligen Lebenswandels werden. Dein
Lohn wird darin liegen, dass du viele anregen wirst, ein Leben in
Keuschheit zu führen. Denn die Schrift sagt: Des
Müßiggängers Seele ist voller böser Begierden
(Spr 13,4). Du darfst Dich nicht etwa deshalb der Arbeit entziehen,
weil Du durch Gottes Gnade keinerlei Mangel leidest, vielmehr musst
Du genau wie alle anderen arbeiten, um dank der Arbeit alle deine
Gedanken auf den Dienst für den Herrn zu konzentrieren. Ich will
ganz einfach sagen: Solltest du auch deine ganzen Einkünfte
unter die Armen verteilen, so ist in Christi Augen doch nichts
wertvoller, als was Deine eigenen Hände geschaffen haben.
[ad
Demetriadem 14.15: CSEL 56, ep. 130, S. 194 - 96; BKV II,
2. Reihe, Bd. 16, S. 264 - 266 b]
Isidor von Pelusium († um 441):
Halte die Lesung der
Heiligen Schriften für eine Wegzehrung [für den Weg] zum
Heil! Denn sie nährt mit trefflichen Beispielen die Liebe zum
Schönen und den Mut derer, die sie mit Eifer hören.
Nicetius von Trier († um 566)
äußert sich über den Wert der geistlichen Lesung:
Glaubt nicht,
dass euch nur geringer Nutzen daraus erwächst, wenn ihr die
heilige Lesung hört! Denn selbst das Gebet wird fruchtbarer,
wenn der Geist durch jeweils neue Lesung genährt wird und er die
eben gehörten Bilder göttlicher Dinge in sich ablaufen
lässt. Denn auch Maria,
die Schwester Marthas, die zu den Füßen
Jesu saß und ganz aufmerksam auf das Wort des Herrn lauschte,
ohne ihre Schwester zu beachten, bekommt durch das Stimme des Herrn
bestätigt, dass sie für sich den guten Teil erwählt
hat.
[De
psalmodiae bono, MPL 68, Sp. 571 - 576; eigene Übersetzung]
Nach Isidor von Sevilla († 636)
bedarf es zum Fortschritt im
geistlichen Leben des Gebets und der geistlichen Lesung:
Durch Gebete
werden wir gereinigt, durch Lesungen unterrichtet. Beides ist gut,
wenn es zugleich möglich ist, andernfalls ist Beten besser als
Lesen. Wer immer bei Gott sein will, muss viel beten und viel lesen.
Wenn wir beten, sprechen wir mit Gott, wenn wir lesen, spricht Gott
mit uns.
Jeder Fortschritt kommt
aus Lesung und Erwägung. Was wir nicht wissen, lernen wir durch
Lesen, und was wir gelernt haben, prägen wir uns ein durch
Erwägung. Das Lesen der Heiligen Schrift gewährt uns einen
doppelten Nutzen: Es unterweist die Einsicht unseres Geistes, und es
zieht den Menschen von den Nichtigkeiten der Welt ab hin zur
Gottesliebe.
Um ein Zweifaches
bemüht sich die Lesung, einmal darum, die Schrift zu verstehen,
und dann darum [zu erkennen], mit welchem Nutzen und welcher
Ehrfurcht sie vorgetragen werden soll. Denn zuerst wird ein jeder
bereit sein, sich dem Verstehen des Gelesenen zu öffnen. Dann
wird er auch fähig sein, vorzutragen, was er gelernt hat. Dem
ernsten Leser ist es viel mehr darum zu tun, auszuführen, was er
gelernt hat, als es auch zu verstehen. …
Je fleißiger ein
jeder die Heilige Schrift studiert, umso reicher ist die Einsicht,
die er aus ihr schöpft. Es ist wie mit dem Ackerboden: Je
ausgiebiger er gepflegt wird, desto reicher ist die Frucht, die er
bringt. …
Eine Lehre, die ohne
Gnade ins Ohr eindringt, gelangt nie bis zum Herzen. äußerlich
macht sie zwar Lärm, aber im Innern ist sie nutzlos. Das Wort
Gottes, das durch das Ohr eingegossen wird, gelangt bis in die letzte
Tiefe des Herzens, wenn die Gnade Gottes den Geist innerlich berührt,
so dass der Geist Einsicht gewinnt.
[Isidor, Liber
Sententiarum 3,8 - 10: MPL 83, Sp. 679ff, zitiert nach: Monastisches Lektionar zum
4.4.]
Antonius Maria Zaccaria († 1539):
Dein
Geist ist wie eine Mühle im Wasser, die immer funktioniert. Wenn
du sie mit Weizen speist, dann mahlt sie Weizen; Wenn du sie mit
Lolch und Wicke speist, mahlt sie Lolch und Wicke.
Petrus Fourier († 1640):
Die geistliche Lesung ist für uns eines der
vorzüglichsten Mittel, um in der Vollkommenheit immer mehr
voranzuschreiten: Sie ist eine mächtige Waffenrüstung gegen
den bösen Feind, ein Bollwerk der Tugend wider die Anfälle
ihrer Feinde; sie ist ein Licht, das unsere Herzen entzündet und
sie aufflammen macht in heiligen Anmutungen göttlicher Liebe;
ein himmlischer Tau, der die Seele befeuchtet, damit sie grüne
und Früchte guter Werke aller Art hervorbringe; sie ist ein
getreuer Spiegel, welcher uns das Bild unserer Seele mit ihren
Makeln und Mängeln vor Augen hält, damit wir uns demütigen
und heilsam beschämt werden.
[Franz
Vogl: Bild einer vollkommenen Ordensfrau oder praktische Anleitung
für Ordenspersonen zur Heiligung der täglichen Handlungen
im Leben und Sterben nach dem seligen Petrus Fourier. Regensburg - New
York - Cincinnati 1881, S. 189 - 199. XI. 171]
Armand Jean Le Bouthillier de Rancé († 1700):
Betrachte, dass
nach Meinung des hl. Augustinus die Seelen vermittelst des Gebets mit
Gott reden, Gott aber redet mit ihnen durch das Lesen. Es ist Gott
selbst, der uns unterrichtet; es ist seine Stimme, die sich in der
Hl. Schrift und durch die Bücher der heiligen Väter, die
sie aus Eingebung des Hl. Geistes geschrieben haben, hören
lässt.
Johann Michael Sailer († 1832):
Unter allen
Büchern lasst euch die heilige Schrift und die Werke der
Kirchenväter die liebsten sein, damit euch der Kern und Stern
unseres allerheiligsten Glaubens immer klarer und wichtiger werde.
Auf diese Weise wird euch der Sinn und Geist der göttlichen
Offenbarungen, Verheißungen, Drohungen, Gaben, Führungen,
Segnungen immer heller in das Auge leuchten, immer mächtiger auf
euer Herz wirken, und immer überzeugender aus euren Reden und
Taten sprechen.
[WW
40, 483 - 485]
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Autor: Abt em. Dr. Emmeram Kränkl OSB - zuletzt aktualisiert am 27.08.2025
korrekt zitieren: Abt em. Dr. Emmeram Kränkl OSB: Artikel
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