Spiritualität der Heiligen - Eine Quellensammlung
zusammengestellt von Abt em. Dr. Emmeram Kränkl OSB,
Benediktinerabtei Schäftlarn
Maß und Mäßigkeit
Maß (griech.: sophrosýne, lat.: temperantia) gehört zu den vier Kardinaltugenden.
Ambrosius von Mailand († 397)
hat die drei Bücher de officiis
in enger Anlehnung an das gleichnamige Werk von Cicero verfasst. Es
handelt sich hier um das erste christliche Ethikwerk und richtet sich
zunächst an die Kleriker seiner Diözese. Zu den Pflichten
des christlichen Lebens gehört das Maßhalten. Es betrifft
alle Vollzüge des christlichen Lebens, z. B. auch Reden und
Schweigen:
Die erste Pflicht
ist das Maßhalten im Reden. Dadurch wird Gott ein Lobopfer
dargebracht, dadurch wird bei der Schriftlesung Ehrfurcht bezeigt,
dadurch wird den Eltern Ehrerbietung erwiesen. Ich weiß, dass
die meisten nur reden, weil sie nicht zu schweigen verstehen. Selten
schweigt einer, wenn schon das Reden ihm nicht nützt. Der Weise
überlegt erst viel, wenn er reden soll: was er sprechen oder zu
wem er sprechen soll, an welchem Ort, zu welcher Zeit. So gibt es
denn ein Maßhalten sowohl im Schweigen wie im Reden, aber auch
ein Maßhalten im Handeln. Schön ist es demnach, das
Pflichtmaß einzuhalten
[off.
1, 10, 35: MPL 16, Sp. 37; BKV II 32, S. 27]
Selbst bei einer
grundsätzlich positiven Verhaltensweise wie bei der
Freigebigkeit sollen nach Ambrosius
Vernunft und Maß walten:
Es ist klar, dass
es [auch] bei der Freigebigkeit ein Maß geben muss. Das Geben
darf nicht nutzlos sein, es muss vielmehr Nüchternheit walten,
besonders von Seiten der Priester, dass sie sich beim Ausspenden
nicht von Prahlsucht, sondern von Gerechtigkeit leiten lassen.
Nirgends sonst gebärdet sich nämlich der Bettel
zudringlicher. Da kommen kräftige Burschen, kommen Leute aus
keinem anderen Grund als aus Stromerei und wollen die
Armenunterstützungen aufzehren und die für sie vorgesehenen
Mittel aufbrauchen. Mit Wenigem nicht zufrieden, verlangen sie
größere Spenden, suchen mit der Kleidertracht ihrem Bettel
nachzuhelfen und unter Vorspiegelung des Geburtstages zusätzliche
Beträge zu ergattern. Wer solchen Leuten leicht Glauben schenkt,
zehrt bald die Mittel auf, die dem Unterhalt der Armen dienen
sollten. Ein Maß im Geben muss sein: Die Armen sollen nicht
leer ausgehen und ihr Lebensunterhalt nicht Gaunern als Beute
überwiesen werden. Jenes Maß soll sein, dass einerseits
der Menschenfreundlichkeit nicht Abbruch geschehe, andrerseits der
Not die Hilfe nicht versagt bleibe.
[off.
2, 16, 76: MPL 16, Sp. 130f; BKV II 32, S. 168f b]
Sara die Einsiedlerin (†
4./5. Jahrhundert.):
Essen- und
Wasserentzug ist das sicherste Mittel, um die Seele zu beruhigen.
Wenn ein Gegner eine Stadt bezwingen will, bringt er die Städter
um die Nahrung und das Wasser, und die Städter sind wider Willen
genötigt, sich ihm zu ergeben. Ebenso geschieht es den Mönchen:
Wenn sie sich in Speise und Trank nicht mäßigen, können
sie sich nicht von den schlechten Gedanken befreien.
[Meterikon. Die Weisheit der
Wüstenmütter, hrsg. und übersetzt von Martirij Bagin und
Andreas-Abraham Thiermeyer. Sankt Ulrich Verlag Augsburg 2004,
Nr. 18]
Benedikt von Nursia († 547 oder um 560):
Nichts steht so
im Gegensatz zu einem Christen wie Unmäßigkeit, sagt doch
der Herr:
Nehmt euch in acht, dass nicht Unmäßigkeit euer
Herz belaste!
[Die
Benediktusregel c. 39]
Hrabanus Maurus (†
856) empfiehlt gemäß seiner
benediktinisch geprägten Spiritualität dem jungen König
Lothar II. neben den anderen Kardinaltugenden vor allem die Tugend
der Mäßigung:
Die Mäßigung
wird so genannt, weil sie den Menschen dazu bringt, in allem das
richtige Maß einzuhalten. Sie heißt auch deshalb so, weil
sie in der Seele des Menschen das richtige Maß zwischen Wärme
und Kälte herstellt; wenn zu viel Kälte herrscht, dann
lässt diese blühende Keime verkümmern. Die Mäßigung
ist demnach diejenige Tugend der Seele, welche dem ganzen Leben das
richtige Maß verleiht. Der Mensch soll sich weder von allzu
großem Hass zu Verwünschungen hinreißen lassen, noch
vor allzu großer Liebe zum Schmeichler werden.
Alles, was es an
Verschiedenheiten gibt, betrachtet die Mäßigung
sorgfältig, sucht es zu dämpfen und auszugleichen. Sie wird
mit einem anderen Namen auch Unterscheidung genannt, weil sie eben
alles unterscheidet, auf dass es nicht das [gesunde] Maß
überschreite, auf dass nichts allzu sehr nach rechts oder nach
links abweiche, vielmehr sich alles auf dem Königsweg halte und
den Schritt zügle, damit er ein angemessener bleibe. Daher
stammt auch der Satz der Philosophen [z. B. von Solon], welcher trotz
seiner Kürze ebenso wertvoll wie notwendig für das Leben
ist:
Nichts im Übermaß. Es wird eben
nichts gesagt, weil auch das Gute unter dem übermaß
leiden kann.
In einem Bild sagt
Jakob darüber: Mein Herr weiß, dass die Kinder noch
Schonung brauchen, auch habe ich für säugende Schafe zu
sorgen. überanstrengt man sie nur einen einzigen Tag, so geht
das ganze Vieh ein
(1. Mose 33, 13). Unter den säugenden
Schafen und Rindern
sind die Seelen zu verstehen, welche das
Wort Gottes hören und aufnehmen. Wenn sie gezwungen werden, zu
rasch Fortschritte zu machen, verlieren sie das, was sie aufgenommen
haben. Die v
aber sind die,
von denen Paulus sagt: Milch gab ich euch zu trinken statt
fester Speise; denn diese konntet ihr noch nicht vertragen. Ihr könnt
es aber auch jetzt noch nicht, denn ihr seid immer noch klein.
(1. Korintherbrief 3,1 - 3). Leuten dieser Art sollen leichte Vorschriften - denn
dies ist unter Milch
zu verstehen - gegeben werden, bis
sie feste und kräftige Speise, d. h. schwerere Vorschriften,
ertragen können.
[S.
Haarländer: Rabanus Maurus / zum Kennenlernen / Ein Lesebuch.
Mainz 2006, S. 150; De anima, c. 10: MPL 110, Sp. 1117]
Laut Bernhard von Clairvaux († 1153) liegt die Tugend
in der Mitte:
Steh fest in
dir! Lass dich nicht nach unten werfen, nicht nach oben ziehen,
schweife nicht in allzu große Länge ab, zersplittere dich
nicht in übertriebener Breite! Halte die Mitte, wenn du das Maß
nicht verlieren willst! Die Mitte ist ein sicherer Ort. Die Mitte ist
die Heimat des Maßes, und das Maß ist die Tugend! Jedes
Verweilen außerhalb des Maßes gilt dem Weisen als
Verbannung. Er hält sich daher nicht in der Ferne auf, weil sie
sich jenseits des Maßes erstreckt, genauso wenig in der Breite,
weil sie außerhalb liegt, auch nicht in der Höhe oder
Tiefe, weil die eine oberhalb, die andere aber unterhalb ist. Im
übrigen führt die Länge gewöhnlich zu jähem
Ende, die Breite zum Riss, die Höhe zum Sturz und die Tiefe zum
Versinken. Ich sage es deutlicher, damit du nicht meinst, ich spreche
von der Länge, Breite, Höhe und Tiefe, die wir nach der
Aufforderung des Apostels zusammen mit allen Heiligen ermessen
sollen … Jetzt … verstehe ich unter Länge das zu lange
Leben, das sich der Mensch verspricht, unter Breite die überflüssigen
Sorgen, auf die der Geist seine Aufmerksamkeit ausdehnt, unter Höhe,
wenn er zu überheblich von sich denkt, und unter Tiefe, wenn er
sich zu weit hinabsinken lässt. Wenn einer mit einer langen
Lebenszeit rechnet, betritt er dann nicht in Wirklichkeit den Weg zu
einem bösen Ende, da er die Grenzen seines Lebens in seiner
allzu weit vorauseilenden Sorge überschreitet? Daher kommt es,
dass Menschen in der Gegenwart außerhalb ihrer selbst leben,
sich aus dem Auge verlieren und durch nutzlose Sorgen in eine andere
Zeit auswandern, die für sie ohne Bedeutung sein wird, ja
überhaupt nie sein wird. In gleicher Weise muss der Geist, der
seine Aufmerksamkeit auf vieles ausdehnt, von zahllosen Sorgen
gequält werden. Was man maßlos dehnt, wird nämlich
dünn, und was allzu dünn wird, reißt schließlich.
Hochmütige überheblichkeit aber, was bedeutet sie anderes
als Sturz in den Untergang? Du hast doch gelesen:
Hochmut
kommt vor dem Fall
! Was geschieht aber, wenn einer aus dem
Bereich sehr großer Mutlosigkeit noch tiefer absinkt? Wird er
nicht von der Verzweiflung verschlungen werden? Ein Starkmütiger
wird sich nicht in sie hinabsinken lassen, ein Kluger sich nicht
durch die ungewisse Hoffnung auf ein längeres Leben verführen
lassen. Ein maßvoller Mensch wird seine Sorgen zügeln, von
überflüssigem absehen, ohne sich dem Notwendigen zu
entziehen. Ein Gerechter jedoch wird nicht nach Dingen greifen, die
ihm zu hoch sind, sondern mit dem Gerechten sprechen: Wenn ich
gerecht bin, werde ich nicht mein Haupt erheben.
[Über
die Besinnung an Papst Eugen. In: Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 693 - 695]
Jordan von Sachsen († 1237) warnt die Schwestern des
Klosters San Agnese
in Bologna vor jeder Übertreibung. Ihr Voranschreiten zu Gott
soll maßvoll geschehen:
Geliebte Töchter,
obwohl ihr dem Duft der Salben eures Bräutigams nacheilt, seht
doch zu, dass ihr vorsichtig wandelt. Lauft so, dass ihr den Preis
gewinnt; nämlich so, dass keine von euch entweder beim Laufen zu
langsam und träge sei, noch durch übereilung mit den Füßen
anstößt und so das Ziel ihres Weges verfehlt. Denn steil
und eng ist der Weg, der zum Leben führt, und vorsichtig muss
man auf ihm gehen, damit der Mensch nicht entweder zur Rechten
ausgleitet durch Achtlosigkeit oder zur Linken durch allzu große
Askese. Von diesen beiden fürchte ich für euch dennoch
mehr, dass ihr eure Leiber bedacht quält und so ins Schlechtere
fallt, so dass ihr auf dem Weg des Herrn gehemmt werdet, der zur
Stadt des Bleibens führt, zur Stadt des Herrn der Heerscharen,
die der Herr auf ewig gegründet hat.
Die Grundmauern dieser
Stadt sind auf heiligen Bergen oder besser auf dem heiligen Berg des
Herrn, auf dem Berg, den seine Rechte erworben hat, das heißt
sein Sohn, der die Rechte Gottes, des Vaters ist, auf der die
Grundmauern dieser Stadt ruhen; der Höchste selbst hat sie
gegründet. O himmlische Stadt, du sichere. Bleibe, du Heimat,
die alles umfasst, was erfreut, wo das Volk nicht murrt, die Bürger
ruhig sind, die Einwohner keinen Mangel leiden; Herrliches wird über
dich gesagt, du Stadt Gottes! Der Weg nach der Stadt, in der es sich
wohnen lässt, ist gefährlich, aber wenn es uns gewährt
werden wird, in jenes selige Jerusalem zu gelangen, das wie eine
Stadt erbaut ist, wird uns dort keine Gefahr schrecken; dort wird
kein Anlass der Zerstörung sein, sondern ewiger Friede, ewige
Beständigkeit, ewige Sicherheit. Der Heilige Geist sagt den
Einwohnern dieser Stadt, den heiligen Bürgern, dass sie von nun
an ausruhen sollen von ihren Mühen.
In der Zwischenzeit,
solange wir uns auf dem Weg abmühen müssen, müssen wir
maßvoll und nicht stürmisch voranschreiten, bis wir zu ihr
gelangen unter der Führung Jesu Christi, unseres Herrn, der über
alles gepriesen ist von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.
Auch wenn ihr in
allem Maß halten müsst, um in demütige Menschen
verwandelt zu werden, so kennt doch die Gottesliebe allein weder
Schranke noch Maß. Jene Liebe aber wird nicht durch Abtötung
des Fleisches, sondern durch heilige Sehnsüchte und fromme
Betrachtungen genährt und durch Pflege der schwesterlichen
Zuneigung, durch die jede von euch die Nächste lieben soll wie
sich selbst.
[Jordan von
Sachsen / Von den Anfängen des Predigerordens, hrsg. von Wolfram
Hoyer. Leipzig 22003, S. 144f, 156]
David von Augsburg († 1272)
richtet an die
Franziskanernovizen einen Aufruf zur rechten Mitte:
Bei
jedem Opfer gebe auch Salz bei, nämlich das Salz der Klugheit.
Du sollst weder nach rechts vom königlichen Wege abweichen durch
überanstrengung noch nach links durch zu große Lauheit.
Die Seele ist freilich unsterblich und kann nicht zugrunde gehen, der
Leib aber ist vergänglich und ein zerbrechliches Gefäß;
er kann darum nicht mit ihr gleichmäßig den Wettlauf
aufnehmen und die nämliche Anstrengung ertragen, die sie, von
einem feurigen Willen beherrscht, aushalten kann. Ein Betrunkener
treibt manchmal das Pferd rasch an, auf dem er sitzt, und beachtet
nicht, dass das arme Tier nicht genug Heu erhalten hat, während
ihm selbst vom Wein ganz heiß geworden ist. So kommt es, dass
das Pferd, über sein Können angestrengt, unter dem Reiter
zusammenbricht und ihn später an das Ziel kommen lässt, als
wenn es langsamer gelaufen wäre … Der fruchtbare Erdboden
verwildert, wenn er lange unbebaut bleibt; nützt man ihn zu sehr
aus, so wird er mager; hält man die goldene Mitte ein, so bleibt
er fruchtbar. Ebenso ist auch mit dem Acker des Körpers
umzugehen, auf dass er nicht ob allzu reichlicher Erholung oder allzu
großer Weichlichkeit ausarte oder im Gegenteil durch übermaß
im Fasten und in der Abtötung geschwächt werde.
[Dagobert
Stöckerl: Bruder David von Augsburg / Ein deutscher Mystiker aus
dem Franziskanerorden. München 1914, S. 27f]
Thomas Morus (†
1535):
So, als müsstest
du sterben, gib aus das Erworbene, so, als lebtest du noch lang, geh
sparsam mit ihm um. Weise ist, wer beide Möglichkeiten
bedenkend, Sparsamkeit und Verschwendung übet im richtigen Maß.
Philipp Neri (†
1595) wendet sich an einen, der sich vornahm, große
Bußwerke zu vollbringen:
Wenn Sie unbedingt
übertreiben wollen, dann übertreiben Sie darin, besonders
sanft, geduldig, demütig und liebenswürdig zu sein!
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Autor: Abt em. Dr. Emmeram Kränkl OSB - zuletzt aktualisiert am 27.08.2025
korrekt zitieren: Abt em. Dr. Emmeram Kränkl OSB: Artikel
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