Spiritualität der Heiligen - Eine Quellensammlung
zusammengestellt von Abt em. Dr. Emmeram Kränkl OSB,
Benediktinerabtei Schäftlarn
Urteilen und Richten
Jesus von Nazareth verbietet uns das Urteilen und Richten (Matthäusevangelium 7, 1 - 5). Wir sollen das Gericht vielmehr Gott überlassen, der allein die Herzen der Menschen kennt.
Nicht auf fremde, sondern die eigenen Fehler schauen: Basilius „der Große” (BKV II 189f).
Verbot des lieblosen Richtens: Johannes „Chrysostomus” (BKV II 67 - 74); Augustinus von Hippo (BKV VI 159 - 161; IX 284 - 286); Armenische Väter (BKV II 136 - 145)
Methodios von Olympos († 251 ? oder 312):
Es ist
besser, meine ich, getadelt zu werden als zu tadeln, je besser es
ist, sich selbst vom Bösen zu befreien als einen anderen.
Paphnutius (†
um 380) ahmt Jesus nach, der nicht kam, um zu
richten, sondern um zu retten:
Ein Bruder im
Koinobion [Kloster] wurde fälschlich wegen Buhlerei [eines
Liebesverhältnisses] verklagt. Er machte sich auf und ging zum
Altvater Antonios. Aber auch die anderen Brüder des Koinobions
kamen, die ihn heilen und heimbringen wollten. Sie begannen, ihn
anzuklagen:
So hast du getan!
Nun war dort zufällig
auch der Altvater Paphnutios der Kephalas. Und er legte ihnen
folgendes Gleichnis vor: Ich sah am Ufer des Stromes einen
Menschen, der bis zu den Knien im Schlamm steckte. Als aber Leute
herzukamen, um ihm die Hand zu reichen, stießen sie ihn bis zum
Hals ins Wasser.
Der Altvater Antonius sagte über den
Altvater Paphnutios: Sehet, das ist ein rechter Mensch, der
Seelen heilen und retten kann.
über dem Wort der Alten
kamen sie zur Besinnung und warfen sich dem Bruder zu Füßen.
Aufgemuntert von den Vätern nahmen sie den Bruder ins Koinobion
mit.
Paphnutius
verzichtet darauf, andere Menschen wegen ihres Fehlverhaltens zu
verurteilen:
Der Altvater
Paphnutios sagte: Ich war auf Wanderung und es begegnete mir, dass
ich mich wegen des Nebels verirrte und mich in der Nähe eines
Dorfes befand; dort sah ich, dass einige Leute in schändlicher
Weise miteinander verkehrten. Ich stellte mich hin und betete um
Verzeihung meiner Sünden. Und siehe, da kam ein Engel mit einem
Schwert und sagte zu mir:
Paphnutios, alle, die ihre Brüder
verurteilen, gehen durch dieses Schwert zugrunde. Du aber hast nicht
geurteilt, sondern dich vor dem Angesichte Gottes verdemütigt,
als hättest du diese Sünde begangen. Deswegen ist dein Name
eingeschrieben im Buche der Lebendigen.
[Nr.
29. 786]
Es heißt von Makarius dem Ägypter († um 390)
dass er, wie es in der Schrift heißt (Psalm 82, 6), ein Gott auf Erden war; denn wie Gott die Welt schützend
deckt, so bedeckte der Altvater Makarios die Schwächen, die er
sah, als sähe er sie nicht, und was er hörte, als hörte
er es nicht.
Angela von Foligno († 1309):
Urteilt über
niemanden, selbst dann nicht, wenn ihr einen Menschen tödlich
sündigen sähet. Ich sage nicht, die Sünde solle euch
nicht missfallen und ihr also die Sünde nicht verabscheuen
sollt. Aber ich sage, ihr sollt über die Sünder nicht
urteilen, denn ihr kennt die Gerichtsentscheide Gottes nicht. Denn
viele scheinen in den Augen der Menschen gerettet, die in den Augen
Gottes verdammt sind, und viele scheinen in den Augen der Menschen
verdammt, die in den Augen Gottes gerettet sind.
[Angela von Foligno: Das Memorial und die letzten Worte, hrsg. und
übersetzt von Louise Gnädinger. St. Ottilien 2012, S. 222]
Teresa Margareta vom Heiligen Herzen Jesu Redi († 1770):
Beklage dich
nicht über irgend jemanden, sondern richte die Klage gegen dich
selbst,; denn wenn du selbst keinen Erfolg hast bei dem, was du zu
tun ersehnst, wie kannst du dich dann beklagen, wenn andere einen
Fehler begehen.
Johannes Bosco (†
1888):
Ertrage gern die Fehler der anderen, wenn du willst, dass
die anderen die deinen ertragen.
(XIII, 617)
Kaspar del Bufalo († 1837):
Irdische
Gesinnung verrät, wer von sich selber gut, von anderen aber
schlecht redet.
Für Friedrich Joseph Haass († 1853) ist der Abbau von
Vorurteilen die Voraussetzung für ein echtes Mitfühlen, für
Nachsicht mit den Fehlern und Schwächen der Menschen:
Der Mensch denkt
und handelt selten in veritabler [wahrer] Harmonie mit jenen Dingen,
die seine Beschäftigung ausmachen. In der Regel wird er von
einer Anzahl von Umständen determiniert, die er selbst nicht
kennt, und von denen er nicht einmal vermutet, dass sie ihn in dem
beeinflussen, was er sein eigenes Urteil und seinen eigenen freien
Willen nennt. Diese von außen bewirkten Umstände könnte
man Vorurteile nennen und dann die Conclusion [Folgerung] ziehen,
dass der Mensch generaliter in allem, was er tut und unternimmt, ein
Spielball von Vorurteilen ist. Doch je weniger ein Mensch die
Vielfalt und die Natur von Vorurteilen bezweifelt, desto vernünftiger
wird er sich selbst verhalten und auch seine natürlichen
Handlungen beurteilen.
Andere Menschen werden
allerdings gerade deswegen ihn für voreingenommen und
eigensinnig erachten und seine Urteile verschroben finden. Zuzugeben,
dass der Mensch in seinem Dichten und Trachten abhängig ist, ein
Sklave dessen, was wir in summa die äußeren Umstände
nennen, bedeutet keineswegs, auf die Beurteilung der Dinge selbst zu
verzichten oder die absolute Freiheit des Willens zu leugnen, ohne
die der Mensch - dieses bedeutet Gottesgeschöpf - nur ein
bedauernswerter Automat wäre. Es bedeutet nur zuzugeben, wie rar
unter den Leuten echte Menschen sind.
Die Abhängigkeit
des Menschen von den äußeren Umständen zwingt zu
nachsichtigem Verhalten seinen Schwächen und seinen Verirrungen
gegenüber. Eine solche Nachsicht ist gewisslich nicht sehr
schmeichelhaft für die Menschheit; doch es wäre ungerecht
und grausam, wollte man die Menschen für diese Abhängigkeit
schelten und schmähen. In manchen Fällen ist es dagegen oft
durchaus nützlich, unsere Handlungen und Urteile eben als aus
dieser Abhängigkeit von äußeren Umständen
entspringend zu betrachten. Sind wir dazu in der Lage, werden Fehler
unserer Nächsten nicht gleich Zorn in uns hervorrufen, ebenso
wenig wird eine uns überraschende Tugend uns sofort in Ekstase
versetzen. Und man kann eingedenk dieser vorgenannten Abhängigkeit
Naturbeschaffenheit und Ursache eines jeden Phänomens besser
erkennen.
[Lew Kopelew: Der Heilige Doktor Fjodor Petrowitsch.
Die Geschichte des Friedrich Joseph Haass. dtv München 1992, S. 26f]
Contardo Ferrini
(† 1902):
Nicht ohne
Seufzen hören wir auch von guten Seelen gar häufig über
die Schuld und die Fehler des Nächsten reden. Sie ergötzen
sich daran, weil sie ja nur Wahres vorbringen, und wissen nicht, wie
erbärmlich es ist zu offenbaren, was in ihrem Geist verborgen
bleiben müsste, weil auch das bloße Enthüllen einer
unbekannten Schuld ein Abscheu ist in den Augen des Herrn.
Maria Fidelis Weiß
(† 1923):
Fremde Fehler und
Schwächen still und geduldig ertragen! Nachsicht üben!
Mit solchen gut
sein, die einem wehe tun und für sie beten! Jede aufsteigende
Bitterkeit unterdrücken! In der Glorie werden wir in dem Maße
mit Gott vereinigt sein, als wir es auf Erden in der Nächstenliebe
waren!
Wenig reden, aber
mit Liebe!
[M.
Angela Mayer, Gottes Liebe ist mein Glück. Schwester Maria Fidelis Weiß,
Franziskanerin von Kloster Reutberg. Ein Lebensbild zum
100. Geburtstag. Kempten 1882 - Reutberg 1923, 1982]
Magdalena Delbrêl(† 1964):
Misstraue deinem
Urteil über die, die sich deiner Wertschätzung nicht
erfreuen.
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Autor: Abt em. Dr. Emmeram Kränkl OSB - zuletzt aktualisiert am 19.08.2025
korrekt zitieren: Abt em. Dr. Emmeram Kränkl OSB: Artikel
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