Spiritualität der Heiligen - Eine Quellensammlung
zusammengestellt von Abt em. Dr. Emmeram Kränkl OSB,
Benediktinerabtei Schäftlarn
Begierden und Leidenschaften
Begierden und Leidenschaften sind zunächst neutrale menschliche Strebungen, tragen aber in sich die Tendenz, sich zu verselbständigen und sich über die Gewissensregungen hinwegzusetzen.
1. Wesen von Begierden u. Leidenschaften 2. Auswirkungen von B. u. L. 3. stoische Apathie 4. Folgen des Sündenfalls 5. rechter Umgang mit den B. und L.
1. Die L. sind nicht nur dem Leib, sondern dem ganzen Menschen zuzuschreiben: Apologeten (BKV I 359).
Augustinus von Hippo († 430): "Begierlichkeit ist das Streben des Geistes, sich, den Nächsten und jeden Körper nicht Gottes wegen zu genießen." (BKV VIII 122)
2. Wirkungen der B.: Petrus „Chrysologus” (BKV 326f.)
Die böse B. ist nicht in den Gliedern, sondern in der Seele angesiedelt: Syrische Didache (BKV 166-68).
Die B. lockt zur Sünde, kann aber mit Gottes Gnade überwunden werden: Johannes von Damaskus (BKV 247f.).
Christus hat die natürlichen Affekte angenommen, die schlechten ferngehalten: Basilius (BKV I 312f.).
Die von der Vernunft beherrschten L. sind wertvolle Helfer des Menschen: Basilius (BKV II 284f.).
Die L. sind Tyrannen des Menschen: Gregor von Nyssa (BKV 179f. 205. 216).
Die Affekte können zum Guten wie zum Bösen gebraucht werden: Gregor von Nyssa (BKV 273-76).
Die L. des Zorns und die geschlechtlichen B. können auch gute Wirkungen hervorbringen: Johannes „Chrysostomus” (BKV I 304).
Die L. sind an sich keine Sünde, können aber dazu führen: Johannes „Chrysostomus” (BKV V 240).
Auch Christus zeigte Affekte: Augustinus von Hippo (BKV VI 31) und Johannes von Damaskus (BKV 174-76).
Theodora († 4./5. Jhdt.) sagte einmal:
Wer alle
göttlichen Gebote hält und dabei auch nur in eine einzige
Leidenschaft verfällt, der wird auch allen anderen
Leidenschaften wieder nachgeben."
Johannes Cassian († um 433):
"Man kann unsere Seele ihrer Natur nach sehr treffend mit einem ganz feinen und leichten Flaumfederchen vergleichen. Sofern es nicht durch Feuchtigkeit verklebt, von Nässe beschwert ist, steigt es durch die ihm eigene Beweglichkeit beim leisesten Lüftchen gleichsam von Natur aus zum höchsten Himmel auf. Wenn es dagegen, von Wasser benetzt, seine Leichtigkeit verloren hat, wird es nicht mehr, wie es ihm von Natur aus eigen wäre, von der Luft nach oben getragen. Im Gegenteil: dann wird es durch die Last der Nässe zu Boden gedrückt.
So ist es auch mit unserem Geist. Nicht beschwert durch ihm anklebende Laster oder Sorgen dieser Welt, nicht verdorben durch die Nässe schädlicher Begier, wird er sich in der Lauterkeit seines natürlichen Wesens beim leichtesten Anhauch geistlicher Meditation nach oben erheben, von aller Erdenschwere losgerissen und zum Himmlischen und Unsichtbaren erhoben. Möchten wir also, dass unser Gebet bis zum Himmel dringt, ja noch über die Himmel hinaus, so müssen wir uns von allen irdischen Lastern reinigen, von jeglicher Hefe der Leidenschaften befreien. Nur dann nämlich kann unser Geist die ihm an sich natürliche Schwerelosigkeit zurückgewinnen und unser Gebet wird, wie von selbst, zu Gott emporsteigen."
[Abbas Isaak über das Gebet, coll. 9; nach: Johannes Cassian, Ruhe der Seele. Einweisung in das christliche Leben II, übertr. v. Gertrude u. Thomas Sartory, Freiburg i. B. 1984, S. 48f.]
Maximus „der Bekenner” († 662):
"So wie ein Spatz, der am Fuß gefesselt ist, wenn er zu fliegen beginnt, durch den Strick auf dem Boden zurückgehalten wird, so wird auch die Seele, die noch nicht leidenschaftslos ist, dann wenn sie zur Erkenntnis des Himmlischen emporsteigen will, von den Begierden auf die Erde herabgezogen und festgehalten."
Mechthild von Magdeburg († 1282 oder 1285 oder 1294) stellt Tugenden und Untugenden einander gegenüber:
"Der Reichtum vergänglicher Dinge ist ein untreuer Gast, die heilige Armut fördert zu Gott eine kostbare Last.
Die Eitelkeit bedenkt nicht ihren Schaden, die Stetigkeit ist mit allen Tugenden voll beladen.
Die Dummheit findet an sich selber Behagen, die Weisheit kann nie genug erfragen.
Der Zorn bringt die Seele in große Finsternis, die heilige Sanftmut ist aller Gnaden gewiss.
Die Hoffart will stets die erste sein. Die Demut kann anders nicht ruhen, als allen Kreaturen zu Diensten zu sein.
Die eitle Ehre ist vor Gott taub und blind, unverschuldete Schmach heiligt das Gotteskind.
Die Gier hat immer einen schreienden Mund, das glückliche Maß hat stets einen süßen Grund.
Die Trägheit lässt reichen Gewinn außer acht, heiliger Fleiß ist nicht auf sein Glück bedacht.
Die Untreue gibt immer falschen Rat. vollkommene Treue versäumt nie gute Tat.
Wahre Geistlichkeit kann sich an niemandem rächen, das unruhige Herz will immer den Frieden brechen.
Die heilige Andacht kann nichts Böses begehen, der böse Wille mag niemandem unterstehen.
Die Bosheit hat von Natur einen hässlichen Grund, die göttliche Gnade ein liebes Gesicht und einen süßen Mund.
Die versteckte Grausamkeit hat einen glatten Mund, die offene Freundlichkeit birgt den Gottesfund.
Die falsche Aufmerksamkeit wohnt sehr nahe dem Hass, die heilige Barmherzigkeit will allein sein mit Gott.
Der Hass wütet ohne Unterlass, immerdar, die Minne brennt ohne Schmerzen, ist aller Leiden bar.
Die böse Missgunst hasst Gottes Freigebigkeit, das reine Herz freut sich liebevoll aller Seligkeit.
Die Nachrede schämt sich vor Menschen, vor Gott fühlt sie sich nicht gestört, der doch alle Dinge sieht und hört.
Die Verzweiflung ist ein furchtbarer Fall, wahre Hoffnung erhält ihre Güter all."
Die Lust dieser Welt hat uns von Gott getrennt, darum müssen wir mit Leiden zurückkehren.
[Mechthild von Magdeburg, "Ich tanze, wenn du mich führst" / Ein Höhepunkt deutscher Mystik, ausgew. u. übersetzt von Margot Schmidt. Verlag Herder, Freiburg i. B. 2001]
3. Stoische Apathie ist unmöglich: Hieronymus (BKV I 415); Augustinus von Hippo (BKV II 20f. 323).
Die Lehre von der Apathie bei den Stoikern u. Kirchenvätern: Makarios (BKV 84f. Anm 4)
Die Affekte im christlichen Leben (gegen die Stoa): Augustinus von Hippo (BKV VI 29-31)
4. Die B. des Fleisches sind Folge der Sünde: Augustinus von Hippo (BKV II 266f. 268); Johannes „Chrysostomus” (BKV V 240); Makarios (BKV 25. 344. 363).
Thomas von Kempen († 1471): "Die Gelegenheiten machen den Menschen nicht erst schwach und gebrechlich, sondern sie zeigen nur, wie schwach und gebrechlich er schon ist."
5. Die Schuldbarkeit der B. wird durch die Taufe getilgt: Augustinus von Hippo (BKV X 226f.).
Ständiger Kampf gegen die B.: Leo (BKV II 273-76. 286-88. 289f.)
Die bösen B. können überwunden werden: Apostolische Väter (BKV 223-26).
Die L. sollen nicht vernichtet, sondern recht gebraucht werden: Laktanz (BKV 197-201).
Die L. werden erfolgreich nacheinander bekämpft: Basilius (BKV I 83).
Wenn das Reich Gottes in die Seele einzieht, verschwinden die L.: Gregor von Nyssa (BKV 119f.).
Gott selbst ist ohne L. Daher ist eine vollkommene Nachahmung Gottes durch den Menschen unmöglich: Gregor von Nyssa (BKV 158).
Der Herr verlangt nicht Unempfindlichkeit gegenüber den B., sondern deren Mäßigung: Gregor von Nyssa (BKV 169f.).
Die Affekte müssen sich der Vernunft unterordnen: Ambrosius (BKV III 58. 621f. 119f.); Johannes „Chrysostomus” (BKV IV P 241-43).
Praktische Anleitung zur überwindung der L.: Johannes „Chrysostomus” (BKV I 194-97)
Die verkehrten L. sind im ganzen Leben zu bekämpfen: Johannes „Chrysostomus” (BKV IV 133-35).
Die Affekte müssen vom Geist beherrscht werden und der Gerechtigkeit dienen: Augustinus von Hippo (BKV II 38f.).
Die rechte Ordnung der L. im christlichen Leben: Augustinus von Hippo (BKV II 316-23)
L. machen Kampf und Vorsicht nötig, auch nach deren überwindung: Augustinus von Hippo (BKV III 258f.).
Jeder liebt die L., gegen die er nicht kämpft; so wird sie ihm zur Kette: Makarios (BKV 50).
Christus ist gekommen, um die Seele von unheilbaren L. zu befreien: Makarios (BKV 343).
Maximus „der Bekenner” († 662)schreibt in seinem Werk Capita de caritate, das 4 x 100 asketisch-mystische Sentenzen enthält:
"Die Liebe ist die gute Verfassung der Seele, auf Grund derer sie der Erkenntnis Gottes kein anderes Seiendes vorzieht. Unmöglich kann man zur Haltung einer solchen Liebe gelangen, wenn man noch durch eine Leidenschaft zu etwas Irdischem gebunden ist.
Liebe wird hervorgebracht durch Leidenschaftslosigkeit, Leidenschaftslosigkeit durch die Hoffnung auf Gott, die Hoffnung durch Geduld und Langmut, diese durch umfassende Enthaltsamkeit, die Enthaltsamkeit durch die Gottesfurcht, die Gottesfurcht aber durch den Glauben an den Herrn.
Wer an den Herrn glaubt, fürchtet die Bestrafung; wer aber die Bestrafung fürchtet, enthält sich der Begierden; wer sich der Begierden enthält, erträgt Bedrängnisse; wer aber Bedrängnisse erträgt, wird Hoffnung auf Gott setzen; wer aber auf Gott seine Hoffnung setzt, trennt seinen Sinn von jeder irdischen Begierde; wenn der Sinn aber davon getrennt ist, wird er die Liebe zu Gott erlangen." [S. P.N. Maximi abbatis capita de charitate, MPG 90, Sp. 960-1080; eigene Übersetzung]
Bruno († 1101):
"Deine Klugheit weiß, wer gesagt hat: 'Wer die Welt liebt und was in der Welt ist: Fleischeslust, Begierde der Augen und Ehrgeiz, hat keine Liebe zum Vater' (1 Joh 2,15 f.). Und auch: 'Wer ein Freund dieser Welt sein will, macht sich zum Feinde Gottes.' (Jak 4,4) …
Was ist törichter, was der Vernunft und sogar der Natur widriger, als das Geschöpf mehr als den Schöpfer zu lieben, und mehr dem Vergänglichen nachzufolgen als dem Ewigen, dem Irdischen mehr als dem Himmlischen?
Ist es nicht eine ganz schlechte und unnütze Mühe, von Begierden gequält zu werden und sich unaufhörlich um Sorgen und ängste, Befürchtungen und Schmerzen wegen solcher Begierden zu bekümmern? Welche Last ist schwerer als die, welche die Seele von der erhobenen Höhe ihrer Würde niederdrückt zum Niedrigsten, was jede Ungerechtigkeit schließlich ist? Fliehe also, mein Bruder, alle diese Mühseligkeiten und Nöte und schreite hinüber vom Sturm der Welt zur sicheren Ruhe und zum ruhigen Hafen."
[Aus einem Brief Brunos an seinen Freund Radolf, den Propst von Reims, in: A. Wienand u. O. Beck, Der heilige Bruno / Vater der Kartäuser, Köln 1987, S. 161-65]
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Autor: Abt em. Dr. Emmeram Kränkl OSB - zuletzt aktualisiert am 07.08.2025
korrekt zitieren: Abt em. Dr. Emmeram Kränkl OSB: Artikel
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