Spiritualität der Heiligen - Eine Quellensammlung
zusammengestellt von Abt em. Dr. Emmeram Kränkl OSB,
Benediktinerabtei Schäftlarn
Aufstieg / Fortschritt im geistlichen Leben
Das geistliche Leben ist ein Prozess. Kein Mensch wird als Vollkommener geboren.
1. Bedingungen des Fortschritts
2. Stufen des Fortschritts
3. Christus als Weg zum Vater
4. verschiedene Menschengruppen
5. Fortschritt der Religion
6. Anfangen
1. Bedingungen des Fortschritts
Vollkommenheit wird nur in allmählichem Fortschritt erreicht: Makarius der Ägypter (BKV 144f).
Synkletike (†
um 400): Je mehr Fortschritte die Wettkämpfer
machen, desto stärker müssen die Gegenspieler sein, mit
denen sie kämpfen.
Für Benedikt von Nursia († 547 oder um 560) ist der Gipfel der Vollkommenheit identisch mit dem Gipfel der Demut. Um diesen Gipfel zu erreichen, errichtet er in seiner Regula eine Demutsleiter, deren zwölf Sprossen Vorbedingungen für das Erreichen dieses Zieles sind.
Gregor „der Große”
(† 604):
Wer
einen hohen Berg erklimmen will, tut das nicht in Sprüngen,
sondern schrittweise und langsam.
[https://www.aphorismen.de/zitat/27287]
Johannes „Klimakos” (†
um 650) schaut auf die 30 Jahre des Lebens Jesu im
Verborgenen. Dementsprechend hat seine Leiter zur Vollkommenheit auch
30 Stufen, die Mönche erklimmen müssen, um ins Paradies zu
gelangen.
Stufe 1 - 3 beinhalten die Abkehr von der Welt, Stufe 4 - 7 die
Haltungen des Gehorsams, der Umkehr, des Bewusstseins der eigenen
Sterblichkeit und der Bußtrauer, die Stufen 9 - 23 die zu
überwindenden Fehlhaltungen und Laster, die Stufen 24 - 26 die
Erlangung der Sanftmut, Demut und Gabe der Unterscheidung, die Stufen
27 - 30 behandeln die Herzensruhe, das Gebet, die
Leidenschaftslosigkeit und die Liebe. Sein Werk förderte
entscheidend das Jesusgebet.
Die folgenden Texte
aus der Paradiesleiter
geben auch Anregung für jedes
intensives Gebetsleben:
Der wahre Mönch
ist wie ein unbeweglicher Blick der Seele und ein nicht zu
erschütternder Sinn des Körpers. Der Mönch ist ein
Licht, das wegen der Glut seines Herzens nie erlischt. Die Stille des
Körpers ist die Weisheit der Lebensführung und Ordnung des
sinnlichen Lebens. Die Stille der Seele besteht in der Weisheit des
Denkens und in einem unbefleckten Geist. Der Freund der Stille ist
die Wachsamkeit der Seele, die vor den Toren des Gemütes
gewissenhaft auf Posten steht, an keinen Schlaf denkt und die bereit
ist, alle zu vernichten und niederzuschlagen, die sich ihr nähern.
Wer diese Stille in der Tiefe seines Gemütes erlebt, versteht
meine Worte; denn er hat durch die praktische Erfahrung Licht
erhalten. …
Die
Gottversenkung ist ein vollständiges Freisein von jeglicher
Sorge über vernünftige oder unvernünftige Dinge. Wer
den ersten das Tor öffnet, wird es auch den zweiten tun. … Wie
das kleine Sandkörnchen im Auge genügt, um den Blick zu
trüben, so genügt eine kleine Sorge, um die Gottversenkung
zu stören. Sie ist ja die Ausschaltung aller Gedanken und
jeglicher Sorge. Der ungetrübte Seelenhimmel kennt nicht das
kleinste Sorgenwölkchen, selbst nicht um den eigenen Körper.
Wer Gott den unbewölkten Himmel seiner Seele darbietet und die
geringste Sorgenwolke daran aufsteigen lässt, der gleicht einem
Menschen, der mit straff gefesselten Füßen laufen will!
[aus: Johannes Klimakos:
Paradiesleiter]
Jordan von Sachsen († 1237)
warnt die Schwestern seines Klosters Sant'Agnese
in Bologna vor jeder Übertreibung. Ihr Voranschreiten zu Gott soll maßvoll
geschehen:
Geliebte Töchter,
obwohl ihr dem Duft der Salben eures Bräutigams nacheilt, seht
doch zu, dass ihr vorsichtig wandelt. Lauft so, dass ihr den Preis
gewinnt; nämlich so, dass keine von euch entweder beim Laufen zu
langsam und träge sei, noch durch übereilung mit den Füßen
anstößt und so das Ziel ihres Weges verfehlt. Denn steil
und eng ist der Weg, der zum Leben führt, und vorsichtig muss
man auf ihm gehen, damit der Mensch nicht entweder zur Rechten
ausgleitet durch Achtlosigkeit oder zur Linken durch allzu große
Askese. Von diesen beiden fürchte ich für euch dennoch
mehr, dass ihr eure Leiber bedacht quält und so ins Schlechtere
fallt, so dass ihr auf dem Weg des Herrn gehemmt werdet, der zur
Stadt des Bleibens führt, zur Stadt des Herrn der Heerscharen,
die der Herr auf ewig gegründet hat.
Die Grundmauern dieser
Stadt sind auf heiligen Bergen oder besser auf dem heiligen Berg des
Herrn, auf dem Berg, den seine Rechte erworben hat, das heißt
sein Sohn, der die Rechte Gottes, des Vaters ist, auf der die
Grundmauern dieser Stadt ruhen; der Höchste selbst hat sie
gegründet. O himmlische Stadt, du sichere. Bleibe, du Heimat,
die alles umfasst, was erfreut, wo das Volk nicht murrt, die Bürger
ruhig sind, die Einwohner keinen Mangel leiden; Herrliches wird über
dich gesagt, du Stadt Gottes! Der Weg nach der Stadt, in der es sich
wohnen lässt, ist gefährlich, aber wenn es uns gewährt
werden wird, in jenes selige Jerusalem zu gelangen, das wie eine
Stadt erbaut ist, wird uns dort keine Gefahr schrecken; dort wird
kein Anlass der Zerstörung sein, sondern ewiger Friede, ewige
Beständigkeit, ewige Sicherheit. Der Heilige Geist sagt den
Einwohnern dieser Stadt, den heiligen Bürgern, dass sie von nun
an ausruhen sollen von ihren Mühen.
In der Zwischenzeit,
solange wir uns auf dem Weg abmühen müssen, müssen wir
maßvoll und nicht stürmisch voranschreiten, bis wir zu ihr
gelangen unter der Führung Jesu Christi, unseres Herrn, der über
alles gepriesen ist von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.
[Jordan
von Sachsen / Von den Anfängen des Predigerordens, hrsg. von
Wolfram Hoyer. Leipzig 22003, S. 144f]
Thomas von Aquin
(† 1274):
Wähle den
Weg über die Bäche und stürze dich nicht gleich ins
Meer!
Man muss durch das Leichtere zum Schwierigeren gelangen.
Vinzenz Ferrer (†
1419):
Wer einen Seelenführer hat, der ihn
anleitet, dem er gehorcht im Großen wie im Kleinen, der gelangt
leichter und in kürzerer Zeit zur Vollkommenheit als der, der es
unternimmt, sich selbst zur Vollkommenheit zu führen.
Für die
Beschreibung des Wegs zur Vollkommenheit wählt Alfons von Orozco
(† 1591) das
traditionelle Bild der Jakobsleiter:
Errichte die so
wunderbare Leiter [des Kreuzes] in deinem Herzen, wo du den Herrn
finden wirst, der dir seine Hand reicht und seine Gunst spendet. Auf
ihr wirst du die Engel aufsteigen und absteigen sehen; denn jeder
heilige Wunsch, den du hast, ist [wie] ein Engel, der vom Himmel
herabkommt, um dorthin zurückzukehren. Dann wirst du von Sprosse
zu Sprosse und von Tugend zu Tugend aufsteigen und dabei großen
Trost empfangen auf dem Weg dieser Pilgerschaft, bis du in die
himmlische Stadt Jerusalem eintrittst.
Dein Wunsch hat mich
dazu veranlasst, hier sieben Punkte vorzulegen, durch welche du, wie
auf einer Treppe, zur geistlichen Vollkommenheit aufsteigen kannst.
…
Die erste
Sprosse oder der Punkt, um die Vollkommenheit zu erlangen, ist das
Bemühen und ständige Sorge, die Reinheit des Gewissens zu
bewahren, und zu beschließen, niemals Gott zu beleidigen,
selbst wenn man das Vermögen, die Ehre und sogar das Leben
verliert. …
Der zweite
Punkt ist, dass du dich in einem ständigen inneren Gebet übst,
da unser Erlöser sagt, dass wir immer beten müssen und
niemals damit aufhören dürfen. …
Die dritte
Sprosse dieser Leiter ist, dass du, wenn du beichten und
kommunizieren und beten willst, nicht so sehr darauf schaust, was du
fühlst und wie du dich zu fühlen wünschst. Das
bedeutet: Auch wenn du Trockenheit verspürst, verlasse deine
geistlichen übungen nicht, denn Vollkommenheit ist nicht das,
was kommt und geht, wie der Geschmack bei der Andacht, sondern der
göttliche Glaube, die große Liebe zu Gott, die Geduld bei
deinen Arbeiten. …
Der vierte Punkt
ist, dass du sehr sorgfältig versuchst, eine übung von
großem Wert zu verrichten, nämlich mit dem aktiven Leben
immer das kontemplative Leben zu verbinden. …
Der fünfte
Punkt, Bruder, lautet, du sollst an keinem Tag aufhören, zur
Messe zu gehen; denn unser Erlöser sagt: Lasst uns zuerst das
Reich Gottes und seine Gerechtigkeit suchen, und alles andere wird
uns dazu gegeben werden. …
Der sechste
Punkt, den du befolgen sollst, ist, dass du dich nach dem Messbesuch
in frommen Werken übst wie dem Besuch kranker und gefangener
Menschen und Almosen verteilst nach deinen Fähigkeiten. …
Der letzte Punkt
besagt, dass Sie mindestens zweimal täglich jeweils eine halbe
Stunde einplanen sollst, um die Wohltaten Gottes, die Schöpfung,
ihre Erhaltung, die Erlösung Verherrlichung zu betrachten.
[Alonso
de Orozco: Antologia de sus obras. Madrid 1991, S. 79f; eigene Übersetzung]
2. Stufen des Fortschritts
Das ständige grenzenlose Wachstum im Guten: Gregor von Nyssa (BKV 300f).
Die Masse steigt nicht auf zur Vollkommenheit: Ambrosius von Mailand (BKV II 229).
Wer in der Vollkommenheit nicht fortschreitet, fällt der Gefahr des Rückschritts anheim: Papst Leo „der Große” (BKV II 71, 124).
Die höchste Stufe der Vollkommenheit: Makarius der Ägypter (BKV 71 - 74, 86).
Für
Pseudo-Dionysios „den Areopagiten” (5./6. Jahrhundert)
gibt es einen dreifachen Weg: via purgativa - via illuminativa - via
unitiva, der in der späteren spirituellen Literatur vielfach
aufgegriffen wurde.
Dreieinigkeit,
über alles Wesenhafte hinaus, mehr als göttlich und mehr
als gut: Du, die Du über alle christliche Gottesweisheit
wachest, führe uns nicht nur jenseits von Licht und Dunkel,
sondern auch über das Unkennbare hinaus bis nahe an die höchsten
Gipfel des mystisch deutenden Wortes, bis dorthin, wo die ein fachen,
absoluten, unversehrbaren Mysterien des Gotteswissens offenbar werden
und wo die Dunkelheit des Schweigens über alles Licht hinaus die
Wahrheit erhellt: denn - tatsächlich! - in diesem Schweigen
enthüllen sich die Geheimnisse des Dunkels.
[Mystische
Theologie. In: MPG 3, c. II u. V, Sp. 997A - 1048B; vgl. William J. Hoye:
Das Schweigen / Dionysius Areopagita - http://www.hoye.de/mystik/lieferung2.pdf]
Nach Guerricus von Igny († 1157) gibt es vier Stufen
auf dem Weg zu Gott:
Dies sind die
Stufen, auf denen du voranschreiten musst, auf diesem Weg wirst du
aus der Finsternis dieser Welt zum Vaterland der ewigen Klarheit
gelangen, wo deine Finsternis hell sein wird wie der Mittag. Dann
wirst du sehen und wirst strahlen, dein Herz wird vor Freude beben
und sich weit öffnen.
Wir sind schon im Licht
durch den Glauben
. Von ihm aus wollen wir voranschreiten in ein
umfassenderes, strahlenderes Licht: erst in das Licht der
Gerechtigkeit
, dann in das Licht der Erkenntnis
und
schließlich in das Licht der Beschauung
, der
verkostenden Weisheit. Denn was wir glauben durch den Glauben, muss
folgerichtig umgesetzt werden durch die Gerechtigkeit, dann
verstanden werden durch die Erkenntnis und schließlich geschaut
werden durch die Weisheit.
Der Psalmist betet:
Lehre mich rechtes Handeln und Erkenntnis, denn ich vertraue
auf deine Gebote
(Psalm 119, 66), so als wollte er sagen: Ich habe
die Anfangsgründe gelernt, nämlich den aufrichtigen
Glauben, lehre mich nun die folgenden Schritte, nämlich echtes
Handeln und Erkenntnis. Die Erkenntnis umfasst jedoch verschiedene
Geistesgaben, die nicht allen in gleichem Maß geschenkt werden.
Der Heilige Geist teilt sie vielmehr aus, wie er will.
Wenn der Mensch zuletzt
über diese drei Stufen zur Weisheit voranschreitet, dann wird er
frei für die Beschauung und darf im Schauen verkosten, wie gütig
der Herr ist. Wenn ihm dann durch den Geist enthüllt wird, was
kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat, was keinem Menschen
in den Sinn gekommen ist, dann ist ein solcher Mensch herrlich
erleuchtet. Der Prophet - oder besser, der Geist aller Propheten -
sagt zu ihm: Auf, werde licht, denn es kommt dein Licht, und
die Herrlichkeit des Herrn geht leuchtend auf über dir.
(Jesaja 60, 1)
[Maria
Hildegard Brem: Guerric von Igny / Über das geistliche Wachstum. =
Zisterziensische Spiritualität für den Alltag 4. Regensburg 2003, S. 20]
In einer Schrift an
die Franziskanernovizen in Regensburg bedient sich David von Augsburg
(† 1272) der allegorischen
Schriftauslegung, d. h. er deutet die Söhne der beiden Frauen
Jakobs als Stufen zur christlichen Vollkommenheit:
Beim Streben
nach wahrer Frömmigkeit handelt es sich hauptsächlich um
zwei Stücke: um die Ausübung der Tugend und um den Zustand
der inneren Andacht. Das eine betrifft das tätige Leben, das
andere das beschauliche Leben - beide versinnbildlicht durch die zwei
Frauen Jakobs, die fruchtbare Lea und die
schöne Rahel: Reicher
an Zahl sind die Werke der Tugend, aber süßer im Geschmack
ist der Genuss der Andacht. Lea gebar nämlich sechs Söhne,
und diese bedeuten die sechs Stufen des Handelns …
Die erste Stufe
sind die Werke der Buße, durch die der Leib gezwungen wird, dem
Geist zu dienen: Enthaltsamkeit, Nachtwachen, Geißelung und
dergleichen.
Die zweite Stufe besteht darin, dass man die
aufsteigenden Regungen der Sünde unterdrückt, den Stolz
niederwirft, den Zorn erstickt, den Neid auslöscht, die
Begierden verjagt, den Geiz von sich stößt, die
Leckerhaftigkeit zähmt, die üppigkeit verachtet und die
Zunge im Zaum hält. …
Die dritte Stufe besteht in der
Ausübung der Tugendwerke, im demütigen und beharrlichen
Gehorsam, im Dienste der Liebe, in Sanftmut der Sprache und so in
verschiedenen übungen des guten Beispiels. …
Die vierte
Stufe: jegliche Widerwärtigkeit erdulden lernen, wie z. B.
Zurechtweisungen, auch unverdiente, Mangel an Lebensmitteln,
Kleidern, Häusern, Büchern, ferner Krankheiten, Verhöhnung,
Verachtung, Beleidigung, Verdächtigung, Beschwerden,
Versuchungen, Verschrobenheit anderer, Unreinlichkeit, Verfolgung,
Kerker und Tod. …
Die fünfte Stufe: die Gedanken,
Stimmungen und Absichten nach der Vernunftnorm zu regeln und alle
Affekte zu Tugenden zu ordnen, so dass man nur das Liebenswerte
liebt, und zwar so, wie es zu lieben ist, nur das Fürchtenswerte
fürchtet, nur das Hassenswerte hasst, nur das Betrauernswerte
betrauert, nur über das Erfreuliche sich freut. …
Die
sechste Stufe ist der Eifer für die Seelen. die geordnete
Leidenschaft für die Gerechtigkeit, worin man das Heil aller
Menschen begehrt und sich nach Kräften bemüht, dem Nächsten
zu helfen und ihn aus dem Schiffbruch zu retten durch Lehren,
Beraten, Ermahnungen, Trösten, Beichtehören, Lenken, Rügen,
gutes Beispiel und Erbauungen auf jede Weise - und dies alles rein
aus Liebe zu Gott und zum Heile des Nächsten.
."
[David an Bruder Berthold und die Novizen in Regensburg. In: Wolf
Brixner: Die Mystiker / Leben und Werk. Augsburg 1987, S. 245 - 247]
„Meister” Eckart (†
1327) unterscheidet sechs Grade des Wachstums dieses
inneren edlen Menschen:
Der erste Grad
des inneren oder neuen Menschen … ist, dass der Mensch nach dem
Bild guter und heiliger Leute lebt, aber noch an den Stühlen
geht und sich noch an den Wänden hält und sich labt mit der
Milch.
Der zweite Grad ist, so
er … nicht allein mehr auf die Vorbilder hinschaut, auch guter
Menschen, sondern er läuft und eilt zur Lehre und zum Rat Gottes
und göttlicher Weisheit, kehrt dem Menschlichen den Rücken
und das Antlitz zu Gott, kriecht der Mutter aus dem Schoß und
lacht den himmlischen Vater an.
Der dritte Grad ist, so
der Mensch mehr und mehr der Mutter sich entzieht und ihrem Schoß
ferner und ferner bleibt, der Fürsorge entflieht und die Furcht
abwirft. Wenn er die Möglichkeit hätte, allen Leuten übel
und unrecht zu tun, ohne dass er selbst Verdruss hätte, es würde
ihn doch nicht danach gelüsten; denn er ist durch Minne [Liebe]
also mit Gott verbunden und vertraut in stetem Eifer, bis der ihn
gesetzt und eingewiesen hat in Freude und Süßigkeit, wo
ihm zuwider ist alles, was Gott ungleich und fremd ist und vor ihm
nicht ziemt.
Der vierte Grad ist, so
er mehr und mehr zunimmt und sich einwurzelt in der Liebe zu Gott,
also, dass er allzeit bereit ist, jederlei Anfechtung und Prüfung,
Ungemach und Leid willig und gern, begierig und mit Freuden auf sich
zu nehmen.
Der fünfte Grad
ist, so der Mensch allenthalben von sich selber aus in Frieden lebt,
still ruhend im Reichtum und im Genuss der höchsten,
unaussprechlichen Weisheit.
Der sechste Grad ist,
so der Mensch entbildet ist und überbildet wird mit Gottes
Ewigkeit, wenn er zu ganzer Vollkommenheit gelangt ist und
Vergänglichkeit zeitlichen Lebens vergessen hat, wenn er gezogen
und hinübergewandelt wurde in ein göttliches Bildnis, wenn
er ein Kind Gottes geworden ist. Einen weiteren, höheren Grad
gibt es nicht mehr; da ist ewige Ruhe und Seligkeit. Denn das Endziel
des inneren und neuen Menschen ist ewiges Leben.
[Wolf Brixner: Die Mystiker / Leben und Werk. Augsburg 1987, S. 264 - 266]
Gregor Sinaites
(† 1346):
Die Himmelsleiter:
Die kleine und
(dennoch) große sowie kurze Leiter derer, die sich
unterwerfen, besitzt fünf Stufen, welche zur Vollkommenheit
führen. Die erste ist die Entsagung, die zweite die
Unterwerfung, die dritte der Gehorsam, die vierte die Demut, die
fünfte die Liebe, welche Gott ist!
Die Entsagung
führt den Darniederliegenden aus der Unterwelt empor und
entbindet den Geknechteten von der Materie. Die Unterwerfung
hat Christus gefunden und dient ihm, wie er selbst sagt: Wer
mir dient, der folgt mir; und wo ich bin, dort wird auch mein Diener
sein
(Johannesevangelium 12, 26). Wo aber ist Christus? Er sitzt zur Rechten
des Vaters!' Also muss dort auch der Diener sein, wo sich auch der
Bediente befindet. (Er gelangt dorthin,) indem er seinen Fuß
zum Aufstieg aufsetzt, oder indem er, bevor er emporgelangt, in
seinem Verhalten zusammen mit Christus emporsteigt und emporgeht. Der
in den Geboten wirksame Gehorsam jedoch zimmert die Leiter
gänzlich aus verschiedenen Tugenden und ordnet diese in der
Seele wie Stufen an. Von ihm aus nimmt einen solchen die
erhebende Demut auf, führt ihn daraufhin zum Himmel empor
und übergibt ihn der Königin der Tugenden, der Liebe.
Sie führt ihn zu Christus und stellt ihn vor ihn. Und auf diese
Weise gelangt, wer sich in Wahrheit unterwirft, durch die kurze
Leiter mühelos zum Himmel empor.
[Gregorios
der Sinaite: Sehr nützliche Kapitel, welche ein Akrostichon
bilden. In: Philokalie Bd. 4, Verlag Der Christliche Osten.
Würzburg 22007, S. 177ff]
Der Augustiner-Prior und Mystiker Walter Hilton (†
um 1396) studierte Theologie, wurde dann aber Einsiedler,
später Augustinerchorherr im Priorat Thurrgarton
(Nottinghamshire). Sein Werk Scala perfectionis
, Leiter
der Vollkommenheit
, war im 15. Jahrhundert in England ein
Klassiker der Erbauungsliteratur über die sieben Stufen der Treppe
geistlicher Minne
.
Petrus Faber (†
1546) unterscheidet drei Stufen der Liebe und ihre
Unterstufen:
Gebe Gott mir und
allen meinen Brüdern und allen Lebenden, Männern wie
Frauen, so hohe Liebe! Ich gestehe, dass ich noch weit von ihr
entfernt bin - wenigstens von einer so hohen Liebe; denn ich glaube,
nicht jeder Liebe bar zu sein, noch jeder Gnade Christi unseres
Herrn. Aber es ist ein anderes, Christus zum Weg, Christus zur
Wahrheit und Christus zum Leben zu haben; wieder ein anderes ist der
Weg der Reinigung, ein anderes der Weg der Erleuchtung, ein anderes
der Weg der Vervollkommnung; und so gibt es Anfänger,
Fortschreitende und Vollkommene, die doch alle in der einen Liebe
sein können - aber es ist eben etwas anderes, möchte ich
sagen, in der Liebe zu sein, etwas anderes in der Liebe zu
leben, etwas anderes in der Liebe bewegt zu werden [vgl.
Apostelgeschichte 17, 28].
Die Anfänger haben
die Liebe in der Erkenntnis, dem Abscheu vor ihren Sünden und im
Streben, hier durch fromme Wünsche Fortschritte zu machen und
sich von den Fehlern zu reinigen. Auch die Fortschreitenden haben die
Liebe: in der Form von Einsicht und von frommen Wünschen nach
dem Göttlichen, d. h. nach den christlichen Tugenden, in denen
sie täglich höher steigen und wachsen möchten. Die
Vollkommenen aber haben und leben die Liebe in ihrer eigentlichen
Form, sofern sie von der Liebe angeregt werden, nach der Erkenntnis
Gottes und Seines Willens zu forschen, um diesen so gut sie können
zu erfüllen. Bei den Erstgenannten bewirkt die Liebe also, dass
sie wider ihre Sünden angehen und sie ausrotten; bei den
Zweiten, dass sie sich inständig um die Erlangung der Tugenden
bemühen; bei den Letzten, dass sie nach Wachstum an
unmittelbarer Erkenntnis und Gottesliebe verlangen, damit all ihr
Tun, Reden und Denken von der Liebe als dem Urquell ausgehe.
Die Anfänger
dagegen haben zum Quell all ihrer guten Taten die Abscheu vor der
Sünde, und die Fortschreitenden das Verlangen nach dem Schmuck
der Tugenden. Die Ersten, d. h. die Anfänger, befleißigen
sich, den alten Menschen auszuziehen, die Fortschreitenden wollen
sozusagen ein Alltagsgewand anziehen, die Vollkommenen dagegen
möchten im hochzeitlichen Kleid
[Matthäusevangelium 22, 11]
erscheinen.
Schließlich ist
hier noch zu vermerken, dass es in jeder dieser drei Menschenklassen
drei Stufen gibt, so dass wir auch sagen können, es gäbe
unter den Vollkommenen Anfänger, Fortgeschrittene und
Vollkommene; und das gilt entsprechend auch von den beiden anderen
Klassen. In jeder von ihnen gibt es einen Anfang, eine Mitte und ein
Ende.
[Peter
Faber: Memoriale / Das geistliche Tagebuch des ersten Jesuiten in
Deutschland, übersetzt von Peter Henrici. = Christliche Meister 38.
Johannes Verlag Einsiedeln 1963, Nr. 67, S. 82f]
Theresa von Ávila „die Große”
(† 1582) schreibt in ihrer Seelenburg
von den 7 Wohnungen
.
Johannes vom Kreuz († 1591):
nennt 10 Sprossen der Gottesliebe
.
Franz von Sales
(† 1622):
Was ist wahre Frömmigkeit?
Die wahre und
lebendige Frömmigkeit setzt die Gottesliebe voraus; ja sie ist
nichts anderes als wahre Gottesliebe. Freilich nicht irgendeine Liebe
zu Gott; denn die Gottesliebe heißt Gnade, insofern sie unserer
Seele Schönheit verleiht und uns der göttlichen Majestät
wohlgefällig macht; sie heißt Liebe, insofern sie uns
Kraft zu gutem Handeln gibt; wenn sie aber jene Stufe der
Vollkommenheit erreicht, dass wir das Gute nicht nur tun, sondern es
sorgfältig, häufig und rasch tun, dann heißt sie
Frömmigkeit. …
Der Strauß fliegt
nie; die Hühner können wohl fliegen, aber nur schwerfällig,
selten und nicht hoch; der Adler aber, die Tauben und Schwalben
fliegen oft, mit Leichtigkeit und erheben sich hoch in die Lüfte.
So schwingt sich auch der Sünder nie zu Göttlichem auf; er
lebt nur auf der Erde und für die Erde. Gute Menschen erheben
sich, ehe sie die Frömmigkeit erreicht haben, wohl zu Gott durch
gute Handlungen, aber selten, langsam und schwerfällig. Fromme
Menschen dagegen schwingen sich zu stolzen Höhen empor, sie tun
es gern, häufig und schnell. Mit einem Wort: Frömmigkeit
ist nichts anderes als Gewandtheit und Lebendigkeit im geistlichen
Leben. Sie lässt die Liebe in uns oder uns in der Liebe tätig
werden mit rascher Bereitschaft und Freude. …
Die Frömmigkeit
ist eine höhere Stufe der Liebe; darum lässt sie uns nicht
nur die Gebote Gottes eifrig, entschlossen und gewissenhaft
beobachten, sondern darüber hinaus noch in liebevollem Eifer
viele gute Werke vollbringen, die nicht geboten, sondern nur
empfohlen sind oder zu denen wir uns angetrieben fühlen. …
So unterscheidet sich die Frömmigkeit von der Gottesliebe nicht
anders als die Flamme vom Feuer. Wenn das geistliche Feuer der Liebe
hohe Flammen schlägt, dann heißt es Frömmigkeit. Die
Frömmigkeit fügt zum Feuer der Liebe nur die lodernde
Flamme froher Bereitschaft hinzu, Entschlossenheit und Sorgfalt nicht
nur in der Beobachtung der göttlichen Gebote, sondern auch der
himmlischen Ratschläge und Einsprechungen.
[Franz von Sales: Philothea / Anleitung zum frommen Leben. Eichstätt
2005, S. 25 - 27]
Johann Michael Sailer († 1834):
kennt Sieben Sprossen der
Himmelsleiter
.
3. Christus als Weg zum Vater
In seinem
Büchlein Der Weg des Geistes zu Gott
beschreibt Bonaventura
(† 1274) in verschiedenen
Bildworten Jesus Christus als den Weg zum Vater:
Christus ist der
Weg und die Tür, Christus ist die Leiter, er ist das Gefährt,
gleichsam der Gnadenthron auf der Bundeslade; er ist
das
Geheimnis, das seit ewigen Zeiten verborgen war
(Kolosserbrief 1, 26).
Wer diesem Sühnezeichen sein Angesicht zuwendet, wer Christus,
der am Kreuz hängt, anschaut mit Glaube, Hoffnung, Liebe,
Hingabe, Bewunderung und Freude, Wertschätzung, Lob und Jubel,
der begeht mit ihm das Pascha, den übergang: Er durchschreitet
mit dem Stab des Kreuzes das Rote Meer. Er betritt von Ägypten
aus die Wüste, wo er das verborgene Manna genießt und mit
Christus im Grabe ruht. äußerlich gleichsam gestorben
erfährt er, soweit es im Pilgerstand möglich ist, was am
Kreuz dem Räuber, der Christus anhing, gesagt wurde: Heute
noch wirst du mit mir im Paradies sein
(Lukasevangelium 23, 43).
Soll dieser Übergang
vollkommen sein, so muss der Geist alle Denktätigkeit einstellen
und mit der höchsten Stufe seiner Liebe ganz zu Gott
hinübergehen und in ihn verwandelt werden. Doch das ist das
Geheimnis der Geheimnisse, das niemand kennt, der es nicht empfangen
hat; das keiner empfängt, der sich nicht nach ihm sehnt; nach
dem sich niemand sehnt, den das Feuer des Heiligen Geistes, das
Christus auf die Erde gebracht hat, nicht bis ins Mark hinein
entflammt. Darum sagt der Apostel, diese geheimnisvolle Weisheit sei
durch den Heiligen Geist geoffenbart (vgl. 1. Korintherbrief 2, 10).
Fragst du, wie das
geschieht, dann frage die Gnade, nicht die Lehre; die Sehnsucht,
nicht den Verstand; das Stammeln des Gebetes, nicht das Studium der
Lesung; den Bräutigam, nicht den Lehrer; Gott, nicht den
Menschen; die Glut, nicht die Helligkeit; nicht das Licht, sondern
das Feuer, das die Seele ganz entflammt und in ekstatischer
Ergriffenheit und in glühenden Gemütsbewegungen zu Gott
hinüberträgt. Dieses Feuer ist Gott selbst, der in
Zion einen Feuerherd hat (Jesaja 31, 9)
.
Kein Mensch kann
Gott sehen und am Leben bleiben
(2. Mose 33, 20). Lasst uns also
sterben und in das Dunkel hineingehen. Lasst uns den Sorgen,
Begierden und Einbildungen Schweigen gebieten. Lasst uns mit dem
gekreuzigten Christus aus dieser Welt zum Vater hinübergehen,
auf dass er uns den Vater zeige und wir mit Philippus sagen können:
Das genügt uns
(Johannesevangelium 14, 8).
[zitiert nach: Monastisches Lektionar zum 15. Juli]
Johannes Baptist Scalabrini († 1905):
Der wahre
Fortschritt besteht nicht in der Zur-Schau-Stellung neuer
Straßen, neuer Maschinen, neuer Systeme; dies alles kann man
wohl den Schmuck, das äußeres der Zivilisation nennen,
aber es ist nicht die Zivilisation, nicht der Fortschritt [selbst].
Der wahre Fortschritt eines Volkes besteht in seiner Erziehung, …
in der Entwicklung der intellektuellen und moralischen Fähigkeiten,
in der Entwicklung des Herzens und in der Pflege des Geistes; des
Herzens, dass es die Tugend [die positiven Werte] umfasst¸ des
Geistes, dass er die Materie beherrscht. …
Jesus Christus ist der
wahre Urheber des Fortschritts, und der wahre Fortschritt ist
schließlich nichts anderes als Jesus Christus selbst; Jesus
Christus, der im Menschen lebt, Jesus Christus, der sich in der
Menschheit verleiblicht und der die Menschheit in sich selbst
verleiblicht, der sich ausbreitet und erhebt in Raum und Zeit, Jesus
Christus, das Zentrum jeder Harmonie, die sich neu bildet, jeder
Schönheit, die sich erneuert, jeder Größe, die
zunimmt. … Denn er ist der Anfang und das Ende und der Weg, der von
dem einen zum anderen führt.
[Lett.
Past. per la Santa Quaresima del 1879. Piacenza 1879, S. 30 - 35; eigene Übersetzung]
4. verschiedene Menschengruppen
In seinem Werk
Zierde der geistlichen Hochzeit
spricht
Johannes von Ruysbroek
(† 1382) u. a. vom Endgericht und vom
dreifachen Kommen Christi.
Fünf
Gruppen von Menschen müssen vor dem Richter erscheinen:
Die erste und die
schlimmste Gruppe sind die Christenmenschen, die in Todsünde
sterben ohne Reue und Bedauern, denn sie haben den Tod Christi und
seine Sakramente verschmäht oder sie vergebens und unwürdig
empfangen. Sie haben weder Nächstenliebe, wie Gottes
Gebot es verlangt, noch Taten der Barmherzigkeit an ihren Mitmenschen
geübt und deswegen sind sie zuunterst in die Hölle
verdammt.
Die zweite Gruppe
sind ungläubige Menschen, Heiden und Juden … [Das
2. Vatikanisches Konzil räumt auch ihnen eine Heilsmöglichkeit
ein, wenn sie wahrhaft Gott suchen bzw. den Regungen ihres Gewissens
folgen und ein rechtes Leben führen: Lumen Gentium 16]
Die dritte Gruppe
sind die guten Christenmenschen, die gelegentlich in Sünde
gefallen sind, die aber voller Reue aufgestanden sind und Buße
geleistet haben, ihre Buße jedoch nicht so entrichtet haben,
wie die Gerechtigkeit es verlangt. Diese gehören ins Fegefeuer.
Die vierte Gruppe
sind Menschen, die Gottes Gebote gehalten haben, oder wenn sie sie
gebrochen haben, doch wieder mit Reue, Bußleistung und Werken
der Liebe und der Barmherzigkeit zu Gott zurückgekehrt sind; und
sie haben die Buße so vollbracht, dass sie ohne Fegefeuer von
der Welt zum Himmel fahren können.
Die fünfte
Gruppe sind diejenigen, die über alle äußeren
Werke der Nächstenliebe erhaben sind und ihren Wandel im Himmel
haben, denn sie sind vereinigt und versunken in Gott und Gott in
ihnen, so dass zwischen Gott und ihnen nichts anderes steht, als die
Zeit und der Zustand der Sterblichkeit. Wenn diese Menschen losgelöst
werden von ihrem Leib, so genießen sie noch im selben
Augenblick die ewige Seligkeit. Sie werden nicht verurteilt, sondern
sie werden am jüngsten Tag mit Christus zusammen das Urteil über
die anderen Menschen sprechen.
[Jan van Ruysbroeck: Die Zierde der Geistlichen Hochzeit -
http://www.gottliebtuns.com/jan_van_ruysbroeck_3.htm - abgerufen am 04.12.2019]
5. Fortschritt der Religion
Vinzenz von Lérins († vor 450)
nimmt Stellung zu der Frage ob
es nicht einen Fortschritt der Religion
gebe:
Gewiss soll es
einen geben, sogar einen recht großen. Denn wer wäre gegen
die Menschen so neidisch und gegen Gott so feindselig, dass er das zu
verhindern suchte? Allein es muss in Wahrheit ein Fortschritt im
Glauben sein, keine Veränderung. Zum Fortschritt gehört
nämlich, dass etwas in sich selbst zunehme, zur Veränderung
aber, dass etwas aus dem einen sich in ein anderes verwandle. Wachsen
also und kräftig zunehmen soll sowohl bei den einzelnen als bei
allen, sowohl bei dem einen Menschen als in der ganzen Kirche, nach
den Stufen des Alters und der Zeiten, die Einsicht, das Wissen und
die Weisheit, aber lediglich in der eigenen Art, nämlich in
derselben Lehre, in demselben Sinn und in derselben Bedeutung.
Die Religion der Seelen
soll die Art der Leiber nachahmen, die im Verlauf der Jahre wohl ihre
Teile entfalten und entwickeln, aber doch dieselben bleiben, die sie
waren. Es ist ein großer Unterschied zwischen der Blüte
der Kindheit und der Reife des Alters; aber die Greise sind
dieselben, die sie als Jünglinge waren, so dass wohl die Größe
und das Aussehen eines und desselben Menschen sich ändert,
nichtsdestoweniger aber die Natur und die Person dieselbe bleibt. …
So muss auch die Lehre
der christlichen Religion diesen Gesetzen des Fortschritts folgen,
dass sie mit den Jahren gefestigt, mit der Zeit erweitert und mit dem
Alter verfeinert werde, dabei jedoch unverdorben und unversehrt
bleibe und in dem gesamten Umfang ihrer Teile, sozusagen an allen ihr
eigentümlichen Gliedern und Sinnen, vollständig und
vollkommen sei, außerdem keine Veränderung zulasse, keine
Beeinträchtigung ihrer Eigentümlichkeit und keine
Veränderung ihres Wesens erleide.
[Vinzenz von Lerins: Commonitorium. In: BKV II, Bd. 20, c. 23, S.
204 - 208]
6. Anfangen
Am Ende des Weges sind wir immer noch Anfänger:
Von Abbas Piot
erzählte Abbas Poimen († 450 ?),
dass er
jeden Tag einen Anfang machte.
Als letzterer im
Sterben lag, sagte er:
Ich gehe zu Gott als einer, der
nicht einmal angefangen hat, Gott zu dienen.
[Weisung
der Väter. Apophthegmata Patrum, übersetzt von B. Miller,
Freiburg i. B. 1965, Nr. 659, Nr. 769]
Als Arsenios „der Große” († um 440) von Dämonen gequält
wurde schrie er zu Gott auf: Gott, verlass mich nicht!
Ich habe zwar in Seinen Augen noch nichts Gutes getan, aber in deiner
Güte gewähre mir, einen Anfang zu machen!
[Weisung
der Väter. Apophthegmata Patrum, übersetzt von B. Miller,
Freiburg i. B. 1965, Nr. 41]
Abbas Moses der Schwarze
fragte Abbas Silvanos († um 400):
Kann der
Mensch täglich einen neuen Anfang machen?
Der Greis
antwortete: Wenn er ein Arbeiter ist, kann er sogar jede Stunde
einen Anfang machen.
[Weisung
der Väter. Apophthegmata Patrum, übersetzt von B. Miller,
Freiburg i. B. 1965, Nr. 866]
Benedikt von Nursia († 547 oder um 560) bezeichnete seine
Regula (c. 73) am Schluss als
eine ganz geringe Regel des Anfangs
.
Guerricus von Igny
(† 1157):
Zwar hat die
Vorsehung für jeden das Ziel im Voraus festgesetzt, zu dem er
gelangen soll, doch haben die Natur Gottes, zu dem ihr unterwegs
seid, und seine Güte kein Ende. Darum wird der Wanderer, wenn er
am Ende ist, von vorne beginnen und sich täglich aufs Neue
sagen: Jetzt fange ich an!
[Maria
Hildegard Brem: Guerric von Igny / Über das geistliche Wachstum. =
Zisterziensische Spiritualität für den Alltag 4. Regensburg 2003]
„Meister” Eckart
(† 1327/1328):
Es ist Zeit,
etwas Neues zu beginnen und dem Zauber des Anfangs zu vertrauen.
Edith Stein - Teresia Benedicta vom Kreuz (†
1942):
Wir wollen jeden Tag ein neues Leben beginnen.
Josef Kentenich
(† 1968):
Heiligkeit besteht in dem Mut,
jeden Tag neu anzufangen.
Der Priester und Schriftsteller Heinrich Spaemann
(† 2001) mahnt dazu, keine Zeit vertun:
Die Stunde
auskaufen (Epheserbrief 5, 15 - 20), in jeder verbirgt sich für den Glauben,
wie die Perle in der Muschel, das Selbstgeschenk Gottes im Heiligen
Geist. Der Preis für die Perle: die (unterschwellig immer
mitgehende) Frage nach dem Willen Gottes, unser Lobpreis.
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Autor: Abt em. Dr. Emmeram Kränkl OSB - zuletzt aktualisiert am 03.09.2025
korrekt zitieren: Abt em. Dr. Emmeram Kränkl OSB: Artikel
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