Spiritualität der Heiligen - Eine Quellensammlung
zusammengestellt von Abt em. Dr. Emmeram Kränkl OSB,
Benediktinerabtei Schäftlarn
Tugend
Das Wort "Tugend" leitet sich ab von "taugen", bedeutet also ursprünglich Tauglichkeit. Unter christlichem Einfluss wurde diese Tauglichkeit vor allem im sittlichen Sinn verstanden als Gegensatz zu Laster und Sünde.
1.Wesen der T. 2. Beurteilung der T. 3. Wirkung der T. 4. Weg zur T. 5. Verschiedenes
1. Aufzählung von Tugenden: Apostolische Väter (BKV 194. 272)
Tugenden der Jugendzeit: Ambrosius (BKV III 431)
Tugenden der Kleriker: Ambrosius (BKV III 54)
Fünf T. bilden die Frömmigkeit: Gebet, Selbstbeherrschung, Barmherzigkeit, Armut, Geduld: Makarios (BKV 289f.).
Einzeltugenden sind nur Teil der einen T.: Gregor von Nyssa (BKV 191f.).
Die T.: Teil eines Organismus: Johannes „Chrysostomus” (BKV III 60f.)
Einheit der T.: Hieronymus (BKV I 365f.); Makarios (BKV 297)
Ein (natürlich) tugendhaftes Leben ist eine Christus nicht gemäße Gerechtigkeit: Johannes „Chrysostomus” (BKV VII 29f.).
T. als rechte Ordnung der Liebe: Augustinus von Hippo (BKV II 414)
Wahre T. zielt auf das ewige Leben ab: Augustinus von Hippo (BKV III 222).
T. besteht in der Liebe zu dem, was zu lieben ist: Augustinus von Hippo (BKV X 114).
T. ist das geduldige Ertragen von übeln: Laktanz (BKV 103. 163).
Definition von T. durch Antonius: Athanasios von Alexandria (BKV II 710f.)
Das Tugendleben der Christen: Basilius (BKV II 313); Petrus „Chrysologus” (BKV 285f.)
T. ist Sache der Seele, des Willens, geht nur verloren durch freien Willen: Augustinus von Hippo (BKV I 51-54).
Sieben Stufen der T.: Augustinus von Hippo (BKV VIII 55-57)
David von Augsburg († 1272 ?):
Beim Streben
nach wahrer Frömmigkeit handelt es sich hauptsächlich um
zwei Stücke: um die Ausübung der Tugend und um den Zustand
der inneren Andacht. Das eine betrifft das tätige Leben, das
andere das beschauliche Leben - beide versinnbildlicht durch die zwei
Frauen Jakobs, die fruchtbare Lea und die schöne Rahel : Reicher
an Zahl sind die Werke der Tugend, aber süßer im Geschmack
ist der Genuss der Andacht. Lea gebar nämlich sechs Söhne,
und diese bedeuten die sechs Stufen des Handelns …:
Die erste Stufe sind die Werke der Buße, durch die der Leib gezwungen wird, dem Geist zu dienen: Enthaltsamkeit, Nachtwachen, Geißelung und dergleichen. Die zweite Stufe besteht darin, dass man die aufsteigenden Regungen der Sünde unterdrückt, den Stolz niederwirft, den Zorn erstickt, den Neid auslöscht, die Begierden verjagt, den Geiz von sich stößt, die Leckerhaftigkeit zähmt, die üppigkeit verachtet und die Zunge im Zaum hält … Die dritte Stufe besteht in der Ausübung der Tugendwerke, im demütigen und beharrlichen Gehorsam, im Dienste der Liebe, in Sanftmut der Sprache und so in verschiedenen übungen des guten Beispiels … Die vierte Stufe: jegliche Widerwärtigkeit erdulden lernen, wie z. B. Zurechtweisungen, auch unverdiente, Mangel an Lebensmitteln, Kleidern, Häusern, Büchern, ferner Krankheiten, Verhöhnung, Verachtung, Beleidigung, Verdächtigung, Beschwerden, Versuchungen, Verschrobenheit anderer, Unreinlichkeit, Verfolgung, Kerker und Tod … Die fünfte Stufe: die Gedanken, Stimmungen und Absichten nach der Vernunftnorm zu regeln und alle Affekte zu Tugenden zu ordnen, so dass man nur das Liebenswerte liebt, und zwar so, wie es zu lieben ist, nur das Fürchtenswerte fürchtet, nur das Hassenswerte hasst, nur das Betrauernswerte betrauert, nur über das Erfreuliche sich freut … Die sechste Stufe ist der Eifer für die Seelen. die geordnete Leidenschaft für die Gerechtigkeit, worin man das Heil aller Menschen begehrt und sich nach Kräften bemüht, dem Nächsten zu helfen und ihn aus dem Schiffbruch zu retten durch Lehren, Beraten, Ermahnungen, Trösten, Beichtehören, Lenken, Rügen, gutes Beispiel und Erbauungen auf jede Weise - und dies alles rein aus Liebe zu Gott und zum Heile des Nächsten …
Die beiden Söhne der Rahel bedeuten das tiefe Forschen nach Wahrheit und des frommen Gebetes reine Absicht auf Gott. Das erste teilt sich in das Studium heiliger Lesung und die Emsigkeit heiliger Betrachtung. Das Gebet aber zielt und führt unmittelbarer zu Gott als Lesung und Betrachtung. Diese beiden bewegen sich wohl um Gott herum, aber das Gebet zielt auf ihn selbst und spricht ihn gleichsam persönlich an, ist ihm darum vertrauter nahe und erreicht wirksamer, was es ersehnt. [David an Bruder Berthold und die Novizen in Regensburg, in: Wolf Brixner, Die Mystiker. Leben und Werk, Augsburg 1987, S. 245-47]
Mechthild von Magdeburg († 1282 oder 1286 oder 1294):
"Diese sieben Dinge sollen wir üben: gerecht im Leben, barmherzig in der Not, getreu in der Gemeinschaft, hilfsbereit im Verborgenen, in Not und Elend schweigen, voll der Wahrheit sein, der Lüge Feind sein."
Tugenden und Untugenden:
"Der Reichtum vergänglicher Dinge ist ein untreuer Gast, die heilige Armut fördert zu Gott eine kostbare Last.
Die Eitelkeit bedenkt nicht ihren Schaden, die Stetigkeit ist mit allen Tugenden voll beladen.
Die Dummheit findet an sich selber Behagen, die Weisheit kann nie genug erfragen.
Der Zorn bringt die Seele in große Finsternis, die heilige Sanftmut ist aller Gnaden gewiss.
Die Hoffart will stets die erste sein. Die Demut kann anders nicht ruhen, als allen Kreaturen zu Diensten zu sein.
Die eitle Ehre ist vor Gott taub und blind, unverschuldete Schmach heiligt das Gotteskind.
Die Gier hat immer einen schreienden Mund, das glückliche Maß hat stets einen süßen Grund.
Die Trägheit lässt reichen Gewinn außer acht, heiliger Fleiß ist nicht auf sein Glück bedacht.
Die Untreue gibt immer falschen Rat. vollkommene Treue versäumt nie gute Tat.
Wahre Geistlichkeit kann sich an niemandem rächen, das unruhige Herz will immer den Frieden brechen.
Die heilige Andacht kann nichts Böses begehen, der böse Wille mag niemandem unterstehen.
Die Bosheit hat von Natur einen hässlichen Grund, die göttliche Gnade ein liebes Gesicht und einen süßen Mund.
Die versteckte Grausamkeit hat einen glatten Mund, die offene Freundlichkeit birgt den Gottesfund.
Die falsche Aufmerksamkeit wohnt sehr nahe dem Hass, die heilige Barmherzigkeit will allein sein mit Gott.
Der Hass wütet ohne Unterlass, immerdar, die Minne brennt ohne Schmerzen, ist aller Leiden bar.
Die böse Missgunst hasst Gottes Freigebigkeit, das reine Herz freut sich liebevoll aller Seligkeit.
Die Nachrede schämt sich vor Menschen, vor Gott fühlt sie sich nicht gestört, der doch alle Dinge sieht und hört.
Die Verzweiflung ist ein furchtbarer Fall, wahre Hoffnung erhält ihre Güter all."
[Mechthild von Magdeburg, "Ich tanze, wenn du mich führst" / Ein Höhepunkt deutscher Mystik, ausgew. u. übersetzt von Margot Schmidt. Verlag Herder, Freiburg i. B. 2001]
2. - Unter den vielen T. ist am höchsten die barmherzige Liebe: Gregor von Nazianz (BKV I 273-77).
Die T. sind von gleichem Wert, da sie unter einander verbunden sind: Makarios (BKV 380).
Die T. ist das wahrhaft Nützliche: Origenes (BKV III 376).
Gerechtigkeit, Nächstenliebe, Wahrhaftigkeit sind die Pfeiler unseres Lebens: Johannes „Chrysostomus” (BKV IV 16).
Tugendhaftigkeit ist das beste Erbgut: Johannes „Chrysostomus” (BKV V 125f.).
Ohne T. steht der Mensch unter dem Tier: Johannes „Chrysostomus” (BKV VII 119).
Die T. ist nackt ohne Liebe: Leo (BKV II 56).
Alle T. nützen nichts ohne Nächstenliebe: Armenische Väter (BKV II 147-51).
Bloß natürlichen T. ist nutzlos: Augustinus von Hippo (BKV V 250f.).
Ziel alles Tugendstrebens ist unsere Verähnlichung mit Gott: Gregor von Nyssa (BKV 158).
Jede T. muss starkmütig sein: Ambrosius (BKV III 103f.).
T. soll nicht Mittel sein zu Macht und Ruhm: Augustinus von Hippo (BKV I 265. 284f.).
Bonifatius († 754/5):
"Wahrhaft selig ist, wer durch den rechten Glauben tugendhaft lebt
und durch das tugendhafte Leben den rechten Glauben bewahrt." [aus Rede 7]
3. Das Glück der T. gegenüber dem Streben nach Lust: Gregor von Nyssa (BKV 192-94)
Der Tugendhafte ist auch im Leiden selig: Ambrosius (BKV III 139-43).
T. allein macht glücklich: Johannes „Chrysostomus” (BKV II 100-02. 105; III 153).
T. macht den Sklaven frei, den Armen glücklich: Johannes „Chrysostomus” (BKV II 230).
Die vier Kardinaltugenden nachEmo (Erno) von Wittewierum († 1237):
"Es gibt drei Seelenkräfte, nämlich die Vernünftigkeit, die Erregbarkeit und die Begehrlichkeit; ihnen stehen [hilfreich] bei: der Glaube, die Hoffnung und die Liebe. Dazu kommen auch die vier Kardinaltugenden, die der Seele bei ihrem Wirken helfen sollen: Die Klugheit steht der Vernunft bei, damit sie beim Tun und Unterlassen nicht irrt, das Maß der Begehrlichkeit und der Erregbarkeit die Tapferkeit. Die Gerechtigkeit steht dem freien Willen zur Seite, aus dem die verdienstlichen und die nichtverdienstlichen Werke entspringen … Diese Strebungen werden auch natürlich genannt, weil sie leicht der Verderbnis unterliegen: Dann verkehrt sich die Vernunft in Hochmut, die Begehrlichkeit in eitle Ruhmsucht und die Erregbarkeit in Hass und Neid. Auch gibt es zwei Naturen der Seele, die in ihr selbst liegen und wegen der Verbindung mit dem Leib: Höher steht dabei die Vernunft, niedriger die Sinnlichkeit und Fleischlichkeit. Durch die Vernunft strebt sie Himmlisches an, durch die Sinnlichkeit Irdisches. So streiten Vernunft und Sinnlichkeit unter einander."
[Kronijken van Emo en Menko, Utrecht 1866, S. 141-43; eigene Übersetzung]
Gregor Sinaites († 1346):
"Aus allen Tugenden soll man wie eine Biene das Tauglichste sammeln, und indem man auf diese Weise aus allem ein wenig übernimmt, eine große Vereinigung in der Ausübung der Tugenden vollziehen. Daraus wird der Honig der Weisheit bereitet zum Frohsinn der Seelen."
4. Durch Betrachtung zur T.: Origenes (BKV II 383)
Praktische Anleitung zum Fortschritt in der T.: Johannes „Chrysostomus” (BKV I 194-97)
Bei den T. ist das meiste Gottes Werk, aber ein Teil auch unseres Mühens: Johannes „Chrysostomus” (BKV VII 64).
T. als Geschenk Gottes: Augustinus von Hippo (BKV I 212; III 496; X 117); Leo (BKV I 186)
T. ist unmöglich ohne Verehrung Gottes: Augustinus von Hippo (BKV I 283).
Gottesfurcht ist Anfang und Ziel aller T.: Gregorios Thaumaturgos (BKV 35f.).
T. als Werk der Guten und göttlicher Lohn des vollbrachten Guten: Gregor von Nyssa (BKV 194)
T. als rechter Mittelweg: Johannes „Chrysostomus” (BKV I 176)
Natürliche Anlage zur T. bes. durch das Mitleid: Johannes „Chrysostomus” (BKV VII 66f.)
Neilos († um 430): "Glaube nicht, du habest eine Tugend erworben, falls du nicht vorher bis aufs Blut um sie gekämpft hast."
Aus dem Bußbuch c. 13 des Theodor von Canterbury († 690):
"Die Tugenden, mit denen die entsprechenden Laster überwunden werden können:
Wenn du bis jetzt hochmütig warst, dannverdemütige dich vor Gott!
Wenn du eitlen Ruhm geliebt hast, dann bedenke, dass du nicht wegen vergänglichem Lob den ewigen Lohn verlierst.
Wenn dich bisher der Rost des Neides aufgezehrt hat, - dies ist die größte Sünde und über alles verwerflich, da der Neider dem Teufel zugeführt wird, der dem ersten Menschen die Gabe missgönnt hat, die er selbst durch seine eigene Schuld verloren hatte -, dann tu Buße und sieh den Erfolg anderer als deinen eigenen an!
Wenn dich Traurigkeit überkommt, dann betrachte Geduld und Langmut!
Wenn dir die Krankheit der Habgier zu schaffen macht, dann denk daran, dass sie die Wurzel aller übel ist und dem Götzendienst Vorschub leistet, und darum sollst du freigebig sein!
Wenn in dir Zorn aufkommt, der im Inneren der Toren seinen Platz hat, dann sollst du deinen Geist beherrschen und ihn durch Gemütsruhe von dir vertreiben!
Wenn die Gefräßigkeit dich zum übermäßigen Essen verleitet, dann bemühe dich um Nüchternheit.
Wenn es sich um Schwelgerei handelt, dann gelobe Keuschheit."
[MPL 99, Sp. 940f.; eigene Übersetzung]
5. Gott lässt das Böse zu, denn ohne es gäbe es nicht verdienstliches Gutes: Laktanz (BKV 154-6).
T. wird von jeher verfolgt: Apologeten (BKV I 319).
Die Seele kann nur Gutes tun, wenn Gott in ihr das Gute wirkt: Augustinus von Hippo (BKV II 252).
Tugend kann kurz definiert werden als die rechte Ordnung der Liebe: Augustinus von Hippo (BKV II 414).
Ohne Gottes Hilfe können wir nichts Gutes wollen: Johannes von Damaskus (BKV 108f.).
In seinem Büchlein "über den Kampf der Laster gegen die Tugenden" stellt Leo IX. († 1054)
die Frage, wie das Wort des Apostels zu verstehen ist. "Alle, die fromm in Christus Jesus leben wollen, werden Verfolgung erleiden" (1. Timotheusbrief 3), da doch zu seiner Zeit niemand mehr wegen des Glaubens eingesperrt, geprügelt und gefoltert und gekreuzigt wird. Nach Leos Ansicht ist nach Ende der Verfolgungszeit Verfolgung im übertragenen Sinn zu verstehen:
"Darunter ist eine andere Art von Verfolgung zu verstehen, die noch unmenschlicher und noch schädlicher ist, die nicht eine handfeste Grausamkeit verursacht, die die Gegnerschaft der Laster hervorbringt: Wenn nämlich der Hochmut gegen die Demut, die eitle Ruhmsucht gegen die Gottesfurcht, die Heuchelei gegen die wahre Frömmigkeit, die Haltung der Verachtung gegen die Bereitschaft, sich unterzuordnen, kämpft, wenn sich der Neid gegen die brüderliche Mitfreude, der Hass gegen die Liebe, die Ablehnung gerechtfertigter Zurechtweisung gegen die Freimütigkeit, der Zorn gegen die Geduld, aufgeblasener Stolz gegen die Bereitschaft zur Genugtuung, weltliches Leben gegen die geistliche Freude, Lethargie oder Trägheit gegen die übung der Tugend, gegen feste Beständigkeit zügelloses Umherschweifen, gegen die zuversichtliche Hoffnung die Verzweiflung, gegen die Verachtung der Welt die Begierlichkeit, gegen die Barmherzigkeit die Verhärtung, gegen die Uneigennützigkeit Betrug und Diebstahl, gegen die Wahrheitsliebe Lug und Trug, gegen die Enthaltsamkeit gegenüber den Speisen die Gefräßigkeit des Magens, gegen maßvolle Trauer unpassende Fröhlichkeit, gegen die diskrete Schweigsamkeit die Geschwätzigkeit, gegen die die Keuschheit des Fleisches Unreinheit und Ausschweifung, gegen die Reinheit des Herzens die Unzucht des Geistes, gegen die Liebe zum himmlischen Vaterland das gierige Verlangen zur gegenwärtigen Welt richtet und mit sich ziehen will, was ist das anderes als eine grausame Verfolgung der in Frömmigkeit Lebenden, die sich gegen die vereinten Schlachtreihen der Tugenden richtet? O wie hart, wie bitter ist der Aufmarsch des Hochmuts, der die Engel aus dem Himmel und die Menschen aus dem Paradies ausgeschlossen hat; deren Heere und Waffengänge sind die Laster, die wir kurz gestreift haben."
[Leo IX., De conflictu vitiorum atque virtutum, MPL 143, Sp. 559-61; eigene Übersetzung]
Thomas Morus († 1535):
"Da die Menschen in ihrem Tun sich ungern nach der Vorschrift Christi ausrichten ließen, haben sie seine Lehre wie einen Messstab aus weichem Blei nach ihren Sitten gestreckt, damit eben beides noch einigermaßen übereinstimme. Ich weiß nicht, was sie damit erreichen, außer dass man mit besserem Gewissen Böses tun darf."
Nach Bartholomäus Holzhauser († 1658)bewährt sich Tugend im Kampf gegen die Einflüsterungen des Bösen in den Versuchungen, Leiden und Wechselfällen des Lebens:
"In diesem Leben liebt Gott zwei Sorten von Menschen vor anderen. Die einen, gleichsam die Erstlinge des Lammes, bewahrt er vor Sünden und Versuchungen, umschirmt sie mit seinem Schutz, erquickt sie mit himmlischen Tröstungen und ziert sie von Anfang an bis zum Schluss mit allem Schmuck himmlischer Gnaden als seine geliebte Braut (z. B. Maria, Josef etc.). Der zweiten Art seiner Lieblinge reichert er das Leben mit Versuchungen, Verfolgungen, Mühen und Leidenschaften der Natur an und teilt ihnen seine spürbare Gnade so spärlich zu, dass sie nur mit größter Mühe zu höchster Tugend und zum Gipfel der Verdienste gelangen. Niemand solle sich einbilden, er könne auf dem weichen Ruhekissen göttlicher Tröstungen die echten Tugenden erlangen. Er soll vielmehr seine Seele auf den bitteren Wermut häufiger Versuchungen und Wechselfälle einstellen. Versuchungen und Wechselfälle und Leiden werden von Gott zugelassen, damit die Tugenden geläutert werden. Wer auf vielfache Weise von Gott zur Bewährung versucht wird, ist zu vielen hervorragenden Tugenden aufgerufen. Wie das Feuer, im Kieselstein verborgen, nur brennt, wenn es herausgeschlagen wird, so bleiben die Tugenden im Gerechten unbekannt; brennen und leuchten werden sie nur, wenn sie durch mancherlei Widerwärtigkeiten geschüttelt werden. Der böse Geist macht es bei der Versuchung dem Feldherrn nach, der bei Belagerung einer Stadt oder feindlicher Truppen deren schwächeren Teil angreift, um so leichter über den Feind zu triumphieren. So greift auch jener, der unsere Natur ganz durchschaut hat, den schwächeren Teil an: Er kämpft gegen jene Tugend an, in der unsere Seele weniger geübt ist und mehr zum entgegengesetzten Laster neigt. Gegen solche Arglist des bösen Feindes muss unsere Seele von einem klugen Staats- oder Heerführer lernen, alle Kräfte dort zu konzentrieren, wo wir angegriffen werden, und durch Gebet, Betrachtung und andere übungen, die zur Bewahrung jener Tugend sich besser eignen, sich verteidigen.
Um bisweilen von einer Tugend oder geistlichen übung, die ihm zuwider ist, beim Menschen aber wundersame Fortschritte macht, abzulenken, befolgt der böse Geist für gewöhnlich verschiedenartige Taktiken: Wütende Angriffe von Versuchungen wechseln mit Lockreizen irdischer Freuden, die überlast weltlicher Geschäfte mit dem Ablenken auf angeblich wichtigere geistliche übungen. All das tut der Architekt der tausend Künste und Listen nur zu dem einen Zweck, vom Streben nach wahrer Tugend, die er hasst, auf Unnützes, Unmögliches oder Schädliches abzulenken. Dieser Fallstrick des Teufels muss durch Standhaftigkeit und Geistesstärke in kluger Weise zerrissen werden. Das wird gelingen, wenn die Seele in aller Demut, Geduld und Langmut der Tugend nachgeht, sich von solchen Einflüsterungen nicht beeinflussen lässt und alle ihre Angelegenheiten mit dem Rat eines klugen Beichtvaters oder Oberen regelt." [Michael Arneth, Seelsorge am Seelsorger. Bartholomäus Holzhauser 1613-1658. Leben und Werk. Burghard Verlag, Trier 1993, S. 158f.]
Klemens Maria Hofbauer († 1820):
"Nur wer rechtmäßig gestritten hat, wird gekrönt werden. Jeder Christ muss früher oder später erprobt werden. Die Tugend, die nicht erprobt ist, ist keine Tugend."
Rosa Flesch († 1906) über Haltungen und Tugenden:
Alles tun aus
Liebe zu Gott, für Gott, mit Gott, um zu Gott zu kommen
.
Vom Stolzen
entfernt sich Gott, er vollbringt nichts Großes für Gott.
Dem Demütigen nähert er sich und befähigt ihn, Großes
zu seiner Ehre und zum Wohl des Nächsten zu vollbringen
.
Großmut
ist der kürzeste Weg zur Vollkommenheit, Beharrlichkeit die
Krone der Tugenden
.
Mein JESUS,
schenke mir Geduld, Liebe, Stärke, Demut und die Gnade der
Beharrlichkeit
.
Ich bete zu
Gott, dass du demütig und klein bleibst und dass Leiden und
Kreuz dein Anteil sind. Auch um die größte aller Gnaden
bitte ich zu Gott, dass du ihm treu bleibest bis zum Ende!
Nur in der Armut
ist mir die Hilfe Gottes versprochen, [nicht im überfluss]
.
Solange die
Schwestern den Geist der Armut und Einfachheit pflegen, so lange ist
Gottes Segen bei unserer Genossenschaft, so lange kommen auch neue
Mitglieder
.
Der liebe Gott
sucht sich das Kleine [und Schwache] aus, wenn er Großes
vorhat
.
[Hans-Joachim Kracht (Hg.) u. a., Leidenschaft für die Menschen, Bd. 2, Dokumente, Sr. M. Marzella Schumann, Lebensbeschreibung der ehrwürdigen Stifterin der Genossenschaft der Franziskanerinnen von Waldbreitbach Mutter Rosa Flesch, Paulinus Verlag 2006, S. 447f.]
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Autor: Abt em. Dr. Emmeram Kränkl OSB - zuletzt aktualisiert am 06.08.2025
korrekt zitieren: Abt em. Dr. Emmeram Kränkl OSB: Artikel
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